Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Mitverschulden für ein elfjähriges Kind, das als letztes einer Kindergruppe beim Überqueren einer Straße von einem Fahrzeug erfasst wurde.
Leitsatz (amtlich)
Einem elfjährigen Kind kann kein Mitverschuldensvorwurf gemacht werden, wenn es beim Überqueren einer Straße, zusammen mit einer bereits auf der Fahrbahn befindlichen Kindergruppe, als letztes Kind von einem Fahrzeug erfasst wird, dessen Fahrer die Kinder wahrgenommen hat und den Unfall hätte verhindern können.
Neben der Einsichtsfähigkeit gem. § 828 Abs. 3 BGB, deren Fehlen das Kind zu beweisen hat, ist im Rahmen des Verschuldens gem. § 276 Abs. 2 BGB ein objektiver Maßstab anzulegen und zu prüfen, ob das Kind die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dabei sind an ein Kind, gestaffelt nach dem Alter, andere Maßstäbe als an einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen anzulegen. Neben dem Alter des Kindes ist dabei auch die konkrete Unfallsituation zu bewerten und zu prüfen, ob Kinder gleichen Alters und gleicher Entwicklungsstufe in der konkreten Situation hätten voraussehen müssen, dass ihr Tun verletzungsträchtig ist und es ihnen möglich und zumutbar gewesen wäre, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes muss ein junger Mensch, der einen schweren Schaden erlitten hat, wegen seines Alters im Verhältnis zu einem älteren Menschen mehr Schmerzensgeld bekommen, weil ersterer noch lange an seinen Verletzungsfolgen zu tragen hat.
Normenkette
BGB § 254; StVG §§ 7, 9; StVO §§ 2a, 3
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Aktenzeichen 1 O 31/17) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 3. Juli 2020 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden - 1 O 31/17 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von 27.500,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 %Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz
- auf einen Betrag in Höhe von 35.000,00 EUR vom 10.10.2014 bis zum 13.5.2018 sowie
- auf einen Betrag in Höhe von 27.500,00 EUR seit dem 14.5.2018
zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche zukünftige Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 21.12.2012 auf der Windmühlenstraße in 31592 Stolzenau zur Quote von 100% zu ersetzen soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergegangen sind.
3. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
6. Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 16.250,00 EUR.
Gründe
(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)
I. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 9, 18 Abs. 1 StVG, §§ 253, 254 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG als Gesamtschuldner gem. § 421 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 4 VVG auf Zahlung von weiterem Schmerzensgeld in Höhe von 27.500,00 EUR sowie die Feststellung gem. § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagten in Höhe von 100 % für das Unfallereignis haften.
1. Die Frage der Unabwendbarkeit stellt sich vorliegend bereits nicht, weil es sich nicht gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG um einen Unfall zwischen mehreren Kraftfahrzeugen gehandelt hat, sondern um einen Unfall zwischen einem Kind und einem Kraftfahrzeug. Ein Fall von höherer Gewalt gem. § 7 Abs. 2 StVG liegt ebenfalls nicht vor.
2. In die gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB vorzunehmende Abwägung ist lediglich auf Beklagtenseite ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a, Abs. 3 Nr. 1 StVO einzustellen. Der Beklagte zu 1 hat durch seine Fahrweise weder eine Gefährdung von Kindern ausgeschlossen (a), noch hat er sich an die zulässige Höchstgeschwindigkeit gehalten, was sich unfallkausal ausgewirkt hat (b). Die Klägerin hat zwar gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen, weil das Beklagtenfahrzeug auf der Fahrbahn grundsätzlich Vorrang genießt. Dieser Verstoß begründet aber aufgrund des Alters der Klägerin und der Gesamtsituation, in der sich die Klägerin befand, kein Verschulden (c).
a) Gemäß § 3 Abs. 2a StVO gilt, dass derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten muss, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Geboten im Sinne des § 3 Abs. 2a StVO sind insbesondere erhöhte Aufmerksamkeit (BGH VRS 62, 166), Beobachtung auch der angrenzenden Straßenteile (KG VRS 74, 257), insbesondere am Fahrbahnrand stehender Kinder (OLG Schleswig ZfS 1988, 380 = VRS 75, 282) und vorsichtige Fahrweise (BGH VRS 26, 348), auch rechtzeitige erhebliche Verminderung der sonst zulässigen Geschwindigkeit (BGH VRS 62, 166; OLG Düsseldorf VRS 63, 257), wenn diese nach den Umständen nicht sch...