Leitsatz (amtlich)
1. Der Schädiger haftet nicht für therapiebedingte Primärschäden, d.h. für Schäden, die erst dadurch entstehen, dass sich nach einem Unfall der im juristischen Sinn Nichtbetroffene in ärztliche Behandlung begibt und durch Falschbehandlung eine Gesundheitsverletzung erleidet. Es fehlt dann der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang, weil Unfall und Gesundheitsverletzung nur in einem äußeren, gleichsam zufälligen Zusammenhang stehen.
2. Eine Haftung für Unfallfolgen, die sich ohne organische Primärverletzung allein aufgrund des Unfallerlebnisses und infolge psychisch vermittelter Kausalität entwickeln, setzt ein Unfallereignis von hinreichender Schwere und Intensität voraus; Bagatellunfälle genügen hier nicht.
3. Die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Dienstunfall (hier: Rechtsreferendarin) entbindet das Gericht im anschließenden Schadensersatzprozess nicht von der Prüfung, ob der geltend gemachte Schaden eine adäquate Folge des Unfalls ist.
4. Zur eingeschränkten Bedeutung neurootologischer Untersuchungen im Schadensersatzprozess.
5. Zur Begründung eines Haushaltsführungsschadens genügt es nicht, wenn pauschal auf einen "Durchschnittstabellenwert" verwiesen und die sich danach ergebende Stundenzahl nachträglich mit einzelnen Tätigkeiten aufgefüllt wird.
Normenkette
BGB §§ 249, 823, 843; StVG § 11
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 12.06.2009; Aktenzeichen 2 O 96/06) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des LG Lüneburg vom 12.6.2009 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Zwangsvollstreckung wegen der Kosten des Berufungsverfahrens durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Auffahrunfalls vom 6.9.2000.
Wegen der näheren Sachdarstellung wird Bezug genommen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 581 f. d.A.).
Die Klägerin wurde nach dem Verkehrsunfall zunächst vom Abend des Unfalltags bis zum übernächsten Tag (8.9.2000) stationär im Heidekreis-Klinikum aufgenommen. Sie litt nach dem vorläufigen Arztbericht des Kreisklinikums/Kreiskrankenhauses Soltau vom 8.9.2000 unter einem HWS-Distorsionstrauma (vgl. Bl. 33 d.A.). Ihr wird eine leichte (kleiner als 10 Grad) Knickbildung im Halswirbelkörper 4/5 bescheinigt. Zur Unfallbedingtheit oder näheren Umständen der Untersuchung enthält der vorläufige Arztbericht keine Ausführungen.
Weiter gibt es vom Heidekreis-Klinikum Soltau einen ärztlichen Kurzbericht vom 22.11.2000, der Bezug nimmt auf die erste Behandlung vom 6.9.2000 (Bl. 235 d.A.). Hier wird der Klägerin eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule in allen Ebenen bescheinigt und überdies noch mal die Knickbildung. Als Diagnose ist "HWS-Distorsion" angegeben (Bl. 235 R d.A.).
Das Beschwerdebild bei der Klägerin weitete sich gegen Ende des Jahres 2000 - insbesondere nach den Diagnosen des weiterbehandelnden HNO-Arztes Dr. Mü.-Ko. - erheblich aus: Am 22.11.2000 bescheinigte dieser Arzt der Klägerin, aus dem HWS-Distorsionstrauma resultiere eine vestibulo-cochleäre Schädigung rechts und ein Tinnitus aurium, ein sog. posttraumatisches cervico-enzephales Syndrom (Bl. 77 d.A.). Zu einer ähnlichen Diagnose (cranio-cervicales Syndrom nach HWS-Distorsion mit Zwerchfelldysfunktion) kam auch Dr. H. am 12.12.2000 (vgl. auch S. 36 f. des Sachverständigengutachtens Do., Bl. 40 f. im Sonderband Gutachten). Nach dem Attest Dr. Mü.-Ko. vom 7.2.2001 erlitt die Klägerin außerdem einen beidseitigen Hörverlust (Bl. 236 und 237 d.A.). Am 21.3.2001 diagnostizierte derselbe Arzt, die Klägerin leide unter einer Gleichgewichtsfunktionsstörung und einem Tullio-Phänomen, weil sie bei lauten Geräuschen ein Schwindelgefühl empfinde. Dieses Krankheitsbild soll allerdings schon nach dem Unfallereignis bestanden haben, der Klägerin jedoch "erst zwei bis vier Wochen nach dem Unfallereignis aufgefallen" sein (Bl. 79 d.A.). In der Bescheinigung vom 31.5.2001 - also knapp ein Jahr nach dem Unfall - heißt es dann, bei der Klägerin bestünden Nacken-/Kopfschmerzen, ein Schwankschwindel bei Belastung und schnellen Bewegungen, auch verbunden mit Übelkeit und Brechreiz, ferner Kribbelparaesthesien in beiden Armen und Kiefer und Atemprobleme. Es läge eine kombiniert zentral-periphere Gleichgewichtsfunktionsstörung vor. Im Bereich der oberen Halswirbelsäule bestünden "schwere" Verletzungen, die sowohl manualmedizinisch als auch in den modernen bildgebenden Verfahren "nachweisbar" seien. Hier bezog sich Dr. Mü.-Ko. auf Feststellungen des Dr. Vo. aus Kempten vom 27.4.2001 (Bl. 80 d.A.). Dieser Arzt hat der Klägerin im Untersuchungsbericht vom 27.4.2001 (Bl. 34 ...