Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersuchungshaft. Haftverschonung. Fluchtgefahr
Leitsatz (amtlich)
Der verfassungsrechtlich zu beachtende Maßstab für die Wiederinvollzugsetzung eines ausgesetzten Haftbefehls nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO wegen veränderter Sachlage gilt erst recht, wenn der frühere Haftbefehl nicht nur außer Vollzug gesetzt, sondern gerade wegen Nichtvorliegens des nunmehr erneut angenommenen Haftgrundes (hier: Fluchtgefahr) sogar aufgehoben worden war.
Normenkette
StPO §§ 112, 116
Verfahrensgang
LG Leipzig (Entscheidung vom 10.02.2009; Aktenzeichen 7 KLs 300 Js 27545/08) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Leipzig (Az.: 7 KLs 300 Js 27545/08) vom 10. Februar 2009 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wurde vom Landgericht Leipzig am 10. Februar 2009 wegen "gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung" zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Angeklagte Revision eingelegt hat. Im Anschluss an die Urteilsverkündung erging gegen den bis dahin (wieder) auf freiem Fuß befindlichen Beschwerdeführer Haftbefehl wegen Fluchtgefahr.
Die Strafkammer sah nach Durchführung der Hauptverhandlung dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagte seinem am 22. April 2008 geborenen Sohn am 23. Mai 2008 und am 31. Mai 2008 in erheblich schuldgemindertem Zustand jeweils einmal derart - möglicherweise mit der Hand - gegen den Kopf geschlagen hat, dass der Säugling hierdurch schwere Kopf- und Hirnverletzungen mit akuter Lebensgefahr davongetragen hat. Der andernfalls sehr wahrscheinliche Tod des Kindes konnte, nachdem der Angeklagte es selbst in die Universitäts-Kinderklinik Leipzig verbracht hatte, durch intensivmedizinische Maßnahmen verhindert werden. Durch die Gewalteinwirkungen erlitt neben vielfachen Brüchen des Schädeldaches und großflächigen Einblutungen in das Hirngewebe u. a. als bleibende Folge eine irreversible Totalschädigung der linken Hirnhälfte mit der sicheren Folge einer dauerhaft halbseitigen Lähmung, epileptischen Anfällen sowie geistiger Behinderung. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf die Darlegungen im Haftbefehl Bezug.
Der Angeklagte und seine Verteidigerin haben mit ihrer Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
II. Die Beschwerde führt zur Aufhebung des Haftbefehls.
1. Bei einer Haftentscheidung eines erkennenden Gerichts aufgrund einer vorangegangenen Hauptverhandlung ist die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht darauf beschränkt, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (BGH StV 1991, 525; OLG Karlsruhe StV 1997, 312). Da dem Senat die volle Kenntnis vom Ergebnis der Beweisaufnahme fehlt, kann der angefochtene Beschluss insoweit nur eingeschränkt überprüft werden (OLG Frankfurt StV 1995, 593).
Die Ausführungen der Strafkammer genügen den Anforderungen an eine in sich schlüssige und vertretbare Darlegung des dringenden Tatverdachts gegen den insoweit geständigen Angeklagten. Auch die Voraussetzungen des erfolgsqualifizierten Delikts nach § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB (schwere Körperverletzung) liegen den Darlegungen zufolge vor.
2. Indes sind die Erwägungen der Strafkammer zum Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO im Ergebnis nicht geeignet, die (erneute) Anordnung der Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Untersuchungshaft im Sinne des § 112 StPO dient nicht der Vorwegnahme künftiger Strafhaft (KK-Graf, StPO 6. Aufl. Rdnr. 12 vor § 112).
Sie hat ausschließlich den Zweck, "die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen" (BVerfGE 32, 87, 93).
a) Zwar ist der Strafkammer darin beizupflichten, dass von einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren ein erheblicher Fluchtanreiz ausgeht. Diese hohe Straferwartung kann aber grundsätzlich nicht allein die Fluchtgefahr begründen (KK-Graf, a.a.O. Rdnr. 19 zu § 112). Sie ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr vielmehr nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Angeklagte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden; dabei mögen diese weiteren Umstände ihr Gewicht verlieren, je höher die Strafe ist. Insgesamt müssen jedoch, wie sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der Straferwartung liegenden Flucht...