Leitsatz (amtlich)

1. Wird bei einem Patienten in zeitlich engem Zusammenhang mit einer Operation ein medizinisches Bauchtuch im Operationsgebiet vorgefunden, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieses bei der Voroperation übersehen wurde. Es ist dann Sache des beklagten Klinikums, diesen Beweis zu widerlegen.

2. Das unbemerkte Zurücklassen eines Fremdkörpers ist dem vollbeherrschbaren Bereich des Klinikums zuzuordnen, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die gebotenen organisatorisch-technischen Vorkehrungen hiergegen getroffen wurden.

3. Zu diesen Maßnahmen zählt jedenfalls auch eine Zählkontrolle, die zu dokumentieren ist, wobei es erforderlich ist, die einzelnen zu zählenden Gegenstände vor und nach der Operation ziffernmäßig aufzuführen und die Übereinstimmung beider Werte gesondert zu bestätigen. Mit dem Vermerk "Zählkontrolle: ja" genügt die Arztseite ihrer Dokumentationspflicht nicht.

 

Verfahrensgang

LG Leipzig (Aktenzeichen 07 O 1506/19)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 27.01.2020, Az. 7 O 1506/19, aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Leipzig zurückverwiesen, auch zur Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens.

II. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss:

Der Streitwert wird auf bis zu 155.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld, Schadensersatz sowie die Feststellung der Einstandspflicht für materielle Vergangenheits- und Zukunftsschäden wegen behaupteter Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer Bauchoperation im September 2017.

Der damals 53-jährige Kläger, bei dem ein Adenokarzinom des Rektums festgestellt wurde, unterzog sich am 29.09.2017 im Hause der Beklagten einer Operation, bei der das Karzinom im Wege einer Rektosigmoidresektion entfernt wurde. Im Rahmen der sich anschließenden, ambulant durchgeführten adjuvanten Chemotherapie kam es zum Auftreten von Fieber, einem Harnwegsinfekt und einer Pneumonie, die eine erneute stationäre Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum vom 08. bis zum 14.12.2017 nach sich zog. Hierbei wurde eine Bauchsonografie durchgeführt, die einen weitgehend unauffälligen (Normal-) Befund erbrachte.

Nachdem der Kläger am 24.04.2018 wegen des Verdachts auf Darmverschluss im Bereich des colon descendens erneut bei der Beklagten aufgenommen wurde, erfolgte notfallmässig eine Bauchoperation mit Stoma-Anlage. Nach einem am Folgetag durchgeführten CT und einer Endoskopie wurde ein 25 cm großes, zusammengepresstes grünes Bauchtuch in der Darmlichtung des colon sigmoideum aufgefunden, das am 26.04.2018 operativ aus dem Darm des Klägers entfernt wurde. Nach einer weiteren am 12.06.2018 erfolgten Operation zur Stoma-Rückverlegung stellten sich Komplikationen ein, die zu weiteren Behandlungen führten. Der künstliche Darmausgang ist noch vorhanden.

Der Kläger behauptet, das Bauchtuch sei bei der Darmkrebsoperation grob fehlerhaft in seinem Darm vergessen worden und habe zu dem Darmverschluss geführt. Dies werde durch ein MDK-Gutachten vom 23.01.2019 (Anlage K6) belegt.

Die Beklagte bestreitet, dass das aufgefundene Bauchtuch aus der Operation vom 29.09.2017 stammt. Eine durchgeführte Zählkontrolle sei vollständig erfolgt. Einer Haftung stehe ferner entgegen, dass die histologische Untersuchung des aufgefundenen Bauchtuchs durch den Pathologen ergeben habe, dass es weder Fibrinbelege noch Zellinfiltrationen aufweise, nur sehr gering mit Stuhl verschmutzt gewesen sei und daher nur sehr kurzen Kontakt mit dem menschlichen Körper gehabt haben könne. Ferner sei das Bauchtuch nicht - wie sonst bei Operationen im Hause der Beklagten üblich - mit einer Kocherklemme versehen gewesen. Bis zum 24.04.2018 hätten keinerlei Beschwerden beim Kläger vorgelegen. Wäre das Bauchtuch nach der Operation im September 2017 im Körper des Klägers verblieben, hätte dies eine schwerwiegende Störung der Darmpassage verursacht, die ein Überleben nach der Operation unmöglich gemacht hätte. Der Pathologe sei daher zu dem Schluss gekommen, dass der Fremdkörper nur via naturalis per anal in den Darm gelangt sein könne.

Das Landgericht hat die Klage nach Anhörung des Klägers abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die durchgeführte Zählkontrolle gegen ein Zurücklassen des Bauchtuchs anlässlich der Operation vom 29.09.2017 spreche. Selbst wenn man dies nicht so sehen würde, sei der zugunsten des Klägers streitende Anscheinsbeweis durch das Ergebnis der pathologischen Untersuchung widerlegt. Das MDK-Gutachten sei dagegen unergiebig.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er ist der Ansicht, die landgerichtlichen Ausführungen seien mit den bei Arzthaftungsprozessen zu beachtenden prozessualen Grundsätzen zu verstärkter Amtsermittlung und umfassender Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes nicht zu vereinbaren. Aus dem Umstand, dass ein Bauchtuch in seinem Körper gefunden worden sei, sei im Wege des Anscheinsbeweises ...

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