Leitsatz (amtlich)

1. Ein Nachprüfungsbegehren kann unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung unzulässig sein, wenn zwischen einer Rüge nach § 107 Abs. 3 GWB und der späteren Einleitung des Vergabekontrollverfahrens längere Zeit (hier: mehr als 14 Monate) verstreicht, der Auftraggeber hieraus nach Treu und Glauben den Schluss ziehen durfte, die Beanstandung werde nicht weiterverfolgt, und sich im weiteren Verlauf des Vergabeverfahrens darauf eingerichtet hat.

2. Ein Rügeschreiben nach § 107 Abs. 3 GWB, das äußerlich im Namen eines tatsächlich existierenden, aber nicht als Bieter am Vergabeverfahren beteiligten Unternehmens gefertigt wird, kann nach dem Rechtsgedanken der „falsa demonstratio” dem „richtigen” Bieter zugeordnet werden, wenn die Auslegung des Schreibens ergibt, dass die Beanstandung für diesen kraft seiner als Bieter im Vergabeverfahren erworbenen Rechtsstellung erhoben werden sollte, und die Vergabestelle dies auch so verstanden hat.

 

Verfahrensgang

Vergabekammer Sachsen (Beschluss vom 04.08.2003; Aktenzeichen 1/SVK/96–03)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 12.8.2003 wird der Beschluss der 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen vom 04.8.2003 – 1/SVK/96–03 – aufgehoben.

Die Sache wird zur Entscheidung über die Begründetheit des Nachprüfungsbegehrens der Antragstellerin an die Vergabekammer zurückverwiesen, die dabei auch über die Kosten dieses Beschwerdeverfahrens zu befinden hat.

 

Gründe

I.1. Die Antragsgegnerin schrieb im November 2001 in einem in der Überschrift des Bekanntmachungstextes so bezeichneten Verhandlungsverfahren „Dienstleistungen in der Abfallentsorgung” aus. Gegenstand des Auftrags sollte ausweislich des Ausschreibungswortlauts „die Errichtung einer (nicht-thermischen) Restabfallentsorgungsanlage und die Erbringung von Entsorgungsdienstleistungen mit Hilfe dieser Anlage” sein. Der Auftragnehmer hatte „die Anlage mit einem Durchsatz von 65.000 Mg/a Restabfall … schlüsselfertig zu errichten”. Außerdem sollte sich der Auftragnehmer (neben dem Auftraggeber und ggf. Dritten) an einer Betriebsführungsgesellschaft beteiligen, die für die Betriebsführung der errichteten Anlage vorgesehen war. In diesem Zusammenhang sollte der Auftragnehmer bestimmte Garantien für Betriebsrisiken und Betriebskosten sowie für die „Abnahme und Verwertung bzw. Beseitigung der in der Anlage erzeugten Produkte/Abfälle” und schließlich auch „eine Auslastungsgarantie für die zu errichtende Anlage für den Fall übernehmen, dass der Auftraggeber die Anlagekapazität … nicht mit eigenen Mengen auslasten kann”. Die Formulierungen der Bekanntmachung sprechen an etlichen Stellen von „Dienstleistungen” und „Dienstleistungserbringern”, an einer Stelle (Ziff. 12 a.E.) wird auf eine Vorschrift der VOL/A ausdrücklich Bezug genommen.

2. Teilnahmeanträge waren bis zum 3.1.2002 zu stellen. Neben anderen Interessenten bewarben sich auch die Antragstellerin und die Beigeladene, die unter dem 8.4.2002 die Verdingungsunterlagen durch die, das vom Auftraggeber eingesetzte Projektsteuerungsbüro, zugesandt erhielten. Das beigefügte Anschreiben enthielt im Eingangsabsatz den ausdrücklichen Hinweis, dass die Vergabe „gemäß VOL/A, Abschnitt 2, im Verhandlungsverfahren” erfolge. Nach den Bekundungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geht die Antragstellerin selbst davon aus, diese Unterlagen am 10.4.2002 erhalten zu haben.

3. Mit einem anwaltlichen Rügeschreiben vom 24.4.2002, das bei der Antragsgegnerin am selben Tag einging, beanstandete die Antragstellerin erstmals aus ihrer Sicht bestehende Vergabeverstöße. Sie kritisierte,

(1) die Fa. sei voreingenommen i.S.d. § 16 VgV,

(2) das gewählte Verhandlungsverfahren sei unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 3a Nr. 1 Abs. 4 VOL/A nicht erfüllt seien,

(3) die gewählte Verdingungsordnung sei falsch, weil zumindest die im Auftrag enthaltenen Bauleistungen nach der VOB/A auszuschreiben gewesen wären,

(4) die „Ausführungsfristen” gem. § 11 VOL/A seien zu kurz bemessen, weil „innerhalb der gesetzten Frist … das gewünschte Angebot nicht zu erstellen” sei,

(5) die Ausschreibung sei gesetzwidrig, weil sie den Auftragnehmer zur unzulässigen Akquisition von Abfällen verpflichte,

(6) der Entwurf des Betriebsführungsvertrags sehe – vergaberechtswidrig ohne diesbezügliche Ausschreibung – die Aufnahme privater Dritter vor,

(7) die Verdingungsunterlagen seien widersprüchlich,

(8) sie enthielten im Hinblick auf verlangte Preisangaben überzogene Spezifizierungsanforderungen, die auf eine Ausforschung von Betriebsgeheimnissen der Antragstellerin hinausliefen,

(9) dem Auftragnehmer würden in unangemessener Weise Vertragsrisiken überbürdet.

Davon haben sich die Beanstandungen unter (4) – die in der Sache wohl die Dauer der Angebotsfrist betraf – und (6) im Verlauf des Vergabeverfahrens unstreitig erledigt; die Vergabestelle hat den Betriebsführungsvertrag überarbeitet und die Angebotsfrist (offenbar mehrfach) verlängert. Die übrigen Rügen hat sie als unberechtigt zurückgewiesen. Die Antrags...

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