Leitsatz (amtlich)
1. Zur Notwendigkeit einer Visuskontrolle nach einer operativen Versorgung einer Orbitalbodenfraktur nach Fahrradunfall im Jahr 2005
2. In der unterlassenen Visuskontrolle ist lediglich ein einfacher Befunderhebungsfehler zu sehen.
3. Auch eine - nicht grob -fehlerhafte Unterlassung der gebotenen Befunderhebung führt zu einer Umkehr der Beweislast, wenn sich bei Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit - die der Senat mit mehr als 50 % annimmt - ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde.
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 07.09.2009; Aktenzeichen 4 O 1306/07) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des LG Chemnitz vom 7.9.2009 - 4 O 1306/07 -aufgehoben und die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Kläger.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 32.000 EUR.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen einer versäumten Kontrolle seiner Sehfähigkeit im Zusammenhang mit der operativen Versorgung einer Orbitalbodenfraktur nach einem Fahrradunfall in Anspruch. Er macht insbesondere geltend, im Anschluss an die Operation vom 21.9.2005 im Klinikum der Beklagten sei behandlungsfehlerhaft eine zeitnahe Prüfung der Sehfähigkeit versäumt worden. Wäre diese durchgeführt worden, hätte die am 24.9.2005 festgestellte Erblindung auf dem linken Auge verhindert werden können. Es wird im Übrigen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen. Das LG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt und nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Auffassung vertreten, den Ärzten der Beklagten sei ein grober Behandlungsfehler vorzuwerfen, weil sie postoperativ die gebotene Visuskontrolle versäumt hätten. Dass eine solche Kontrolle nur unter erheblichen Schmerzen für den Kläger und nur innerhalb einer kurzen Zeitspanne hätte durchgeführt werden können, führe ebenso wenig zu einer anderen Beurteilung wie das mit höchstens 3,5 % zu veranschlagende Risiko, bei einer Orbitalbodenoperation zu erblinden. Dass der Sehnerv unmittelbar nach der Operation bereits so irreparabel geschädigt gewesen sei, dass ohnehin die Erblindung nicht mehr hätte verhindert werden können, habe die Beklagte nicht bewiesen.
Mit der fristgerecht eingegangenen Berufung vertritt die Beklagte unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Auffassung, das LG habe die erhobenen Beweise fehlerhaft gewürdigt, insbesondere die Aussage des Sachverständigen Prof. xxxx in ihr Gegenteil verkehrt. Dessen gutachterliche Einschätzung trage eine Verurteilung nicht, allenfalls liege in dem Unterlassen einer postoperativen Visuskontrolle ein einfacher Behandlungsfehler. Das Urteil stelle im Übrigen eine Überraschungsentscheidung dar, weil das Gericht in der mündlichen Verhandlung noch die Auffassung vertreten habe, eine Verurteilung komme nicht in Betracht und die Parteien aufgefordert habe, sich auf einen symbolischen Betrag von 2500 EUR zu vergleichen. Mindestens hätte daher die mündliche Verhandlung wiedereröffnet werden müssen.
Sie beantragt, das Urteil des LG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und vertritt die Auffassung, die gebotene Visuskontrolle hätte von den behandelnden Ärzten schlechterdings nicht übersehen werden dürfen und stelle daher einen groben Behandlungsfehler dar. Er sei auch nicht über ein erhöhtes Risiko der Erblindung bei unterlassener Kontrolle aufgeklärt worden.
Der Senat hat Beweis erhoben durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Prof. xxxx. Es wird insofern Bezug genommen auf das Protokoll des Senatstermins vom 22.4.2010.
II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere entspricht sie §§ 517, 519, 520 ZPO. Sie hat auch vollumfänglich Erfolg und führt unter Abänderung des angefochtenen Urteils zur Abweisung der Klage. Dem Kläger steht der durch das LG zuerkannte Anspruch auf immateriellen Schadenersatz und Feststellung der Ersatzpflicht weiterer Schäden aus § 280 BGB i.V.m. dem Behandlungsvertrag oder aus §§ 823, 253 BGB nicht zu.
1. Das LG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Operation absolut indiziert war. Der gerichtliche Sachverständige Prof. xxxx hat in seinem Gutachten vom 7.1.2009 eine solche Indikation bejaht, weil die Fraktur ansonsten in Dislokation verheilt wäre, was nicht nur erhebliche ästhetische Veränderungen nach sich gezogen hätte, sondern möglicherweise zu einer irreversiblen Hypästhesie im Wangenbereich und zur Ausbil...