Leitsatz (amtlich)
1. Das bloße Füreinander-da-Sein ist nicht als Pflegemehraufwand nach § 843 BGB ersatzfähig.
2. Eine Schätzung des Pflegemehraufwandes kann i. R. d. § 287 ZPO auf ein Pflegegutachten gestützt werden, wenn sich dieses auf die persönliche Exploration des Patienten und die glaubhaften Angaben der pflegenden Angehörigen stützt.
3. Die finanzielle Bewertung des Marktwertes eines pflegenden Angehörigen kann im Rahmen dieser Schätzung mit 9 EUR/Stunde pauschaliert werden; der Anknüpfung an einen Tarifvertrag bedarf es nicht.
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 05.08.2010; Aktenzeichen 4 O 1323/03) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Teil-Urteil des LG Chemnitz vom 5.8.2010 in Ziff. II und III abgeändert und wie folgt neu gefasst:
II. Die Beklagten zu 1), 2) und 4) werden darüber hinaus als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 210.582,33 EUR zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4.1.2006 zu zahlen;
III. Die Beklagten zu 1), 2) und 4) werden des Weiteren als Gesamtschuldner verurteilt, der Klägerin ab dem 1.1.2006 eine personenbezogene Mehrbedarfsrente i.H.v. 2.363 EUR/Monat und ab dem 1.7.2008 i.H.v. 2.353 EUR/Monat zu zahlen, jeweils für drei Monate im Voraus, zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz vom Zeitpunkt der jeweiligen Fälligkeit an.
II. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte zu 6/10, die Klägerin zu 4/10.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
Beschluss:
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 530.267,61 EUR.
Gründe
Die Klägerin hat die Beklagten zu 1) bis 4) auf Schadenersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht für materielle und immaterielle Schäden wegen behaupteter Behandlungsfehler anlässlich ihrer Geburt am 3.9.1997 im Klinikum der Beklagten zu 1) und wegen einer unzureichenden Aufklärung durch die Beklagte zu 3) in Anspruch genommen. Es wird im Übrigen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das LG hat nach Beweisaufnahme durch Teil-Urteil vom 5.8.2010 die Klage gegen die Beklagte zu 3) abgewiesen und die Beklagten zu 1), 2) und 4) als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 500.000 EUR und zu weiterem Schadenersatz für personellen Mehraufwand i.H.v. 319.507,63 EUR für die Vergangenheit und einer Rente ab 1.1.2006 i.H.v. monatlich 4.575 EUR verurteilt und darüber hinaus die Einstandspflicht für Zukunftsschäden festgestellt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei infolge grober Behandlungsfehler der Beklagten hilflos und in allen Bereichen auf Pflegeleistungen angewiesen; diese sei nicht auf eine "Hilfe zum Überleben" zu beschränken, sondern auf einen angemessenen Umfang zu erstrecken. Nach dem pflegewissenschaftlichen Gutachten der Sachverständigen P. ergebe sich für den Zeitraum September 1997 bis 31.12.2005 ein Pflegemehraufwand von insgesamt 41.126,20 Stunden, der mit einem Stundensatz von 9 EUR angemessen abgegolten werde. Hiervon seien die Pflegegeldzahlungen i.H.v. 50.628,17 EUR abzuziehen. Auch ab dem 1.1.2006 bestehe ein Pflegemehrbedarf i.H.v. durchschnittlich 15 Stunden/Tag, der mit 10 EUR/Stunde zu vergüten sei, was zu einer Rente i.H.v. 4575 EUR führe. Das Urteil ist den Beklagten am 13.8.2010 zugestellt worden.
Mit der am 13.9.2009 beim OLG eingegangenen Berufung greifen die Beklagten das Urteil lediglich bezüglich der ermittelten Höhe des personellen Mehraufwandes an. Sie vertreten die Auffassung, das LG habe bereits den zeitlichen Umfang, der für die Pflege anzusetzen sei, fehlerhaft ermittelt, indem es außer Acht gelassen habe, dass während der Zeiten der stationären Pflege der Klägerin kein derartiger Mehrbedarf anfalle. Es habe zudem die fehlerhaften und nicht nachvollziehbaren Ausführungen der Sachverständigen P. nicht hinterfragt und den dort ermittelten Pflegemehraufwand nicht auf das erstattungsfähige Ausmaß gekürzt. Die Sachverständige habe ihrem Gutachten allein die Aussagen der Eltern zugrunde gelegt und Rationalisierungseffekte, die sich aus einem Aufwachsen mit sieben Geschwistern ergäben, sowie Zeiten der geteilten Aufmerksamkeit nicht bedarfsmindernd zugrunde gelegt. Sie sei überdies von einem falschen Begriff der Pflege ausgegangen, der jegliche soziale Kontakte mit einbeziehe und dazu führe, dass die Klägerin praktisch während der gesamten Wachphasen als pflegebedürftig angesehen werde. Der angesetzte Zeitbedarf für Nahrungsaufnahme und Mobilitätsförderung sowie für Verwaltungstätigkeiten der Eltern sei weit übersetzt, ein Mehrbedarf für Spielen, Kommunikation und Krisenbewältigung habe außer Ansatz zu bleiben, schon weil sich die Klägerin trotz ihrer Behinderung eigenständig bewegen und ...