Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahnarzthaftung: Umfang der Aufklärungspflicht bei einer Distraktion. Vortragslast des Arztes im Zusammenhang mit einer hypothetischen Einwilligung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Aufklärung als Grundlage des Selbstbestimmungsrechts soll dem Patienten aufzeigen, was der Eingriff für seine persönliche Situation bedeuten kann. Er soll Art und Schwere des Eingriffs erkennen und ein allgemeines Bild von Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums gewinnen können. Risiken dürfen nicht dramatisiert, aber auch nicht verharmlost werden. Erforderlich ist eine klare, den konkreten Fall vollständig erfassende Risikobeschreibung.
2. Der Patient ist vor einer Distraktion vom Zahnarzt über die Möglichkeit eines Kieferbruchs aufzuklären.
3. Mit der erstmals in der Berufungsinstanz erhobenen Behauptung, der Patient hätte auch bei gehöriger Aufklärung eingewilligt (sog. hypothetische Einwilligung), kann der Arzt nicht mehr gehört werden (§ 531 Abs. 2 ZPO).
4. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass das „Berufen auf hypothetische Einwilligung” nicht das bloße Äußern einer Rechtsauffassung ist, sondern die ausdrückliche Behauptung einer „inneren Tatsache”, nämlich der Einwilligung bei einem gedachten Geschehensablauf. Deswegen ist dieser Einwand nur zu berücksichtigen, wenn der Arzt diesen Einwand mit entsprechendem Vortrag erhebt.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, §§ 611, 823 Abs. 1; ZPO § 531 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Dresden (Urteil vom 26.09.2008; Aktenzeichen 6 O 3780/06) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 26.09.2008, Az.: 6 O 3780/06, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
- Die Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld wird dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
- Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.100,00 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.01.2007 zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag zu 2) unter gleichzeitiger teilweiser Zurückweisung der Berufung abgewiesen.
- Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden, die aus der fehlerhaften Behandlung resultieren, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungs- bzw. Krankenversicherungsträger oder sonstige Träger übergehen. Im Übrigen wird der Antrag zu 3) unter gleichzeitiger teilweiser Zurückweisung der Berufung abgewiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin verlangt Schmerzensgeld (mindestens 50.000,00 EUR), Schadenersatz und die Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige materielle und immaterielle Schäden wegen behaupteter fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung durch den Beklagten. Sie macht ferner geltend, über das eingetretene Risiko nicht aufgeklärt worden zu sein.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf das Urteil wird, auch zur näheren Darstellung des Sachverhalts, Bezug genommen. Das Landgericht hat zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe in die Behandlung wirksam eingewilligt, weil der Beklagte die Aufklärung über die Möglichkeit eines Kieferbruches zwar nicht bewiesen habe, sich aber auf eine hypothetische Einwilligung der Klägerin berufen könne. Weitere Aufklärungspflichtverletzungen bestünden nicht. Die Distraktionsbehandlung sei ohne Fehler durchgeführt worden. Die operativ-konservative Frakturversorgung sei eine mögliche Behandlungsmethode gewesen. Eine rein operative Behandlung hätte nicht zu einem besseren Ergebnis geführt.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie wendet ein, der Beklagte habe sich erstinstanzlich auf eine hypothetische Einwilligung nicht berufen. Die Befragung des Landgerichts über einen Entscheidungskonflikt der Klägerin sei unzulässig gewesen. Dieser habe ohnehin bestanden, weil bei Bekanntheit des Risikos eines Kieferbruchs auf die geplante Distraktion verzichtet worden wäre. Das Landgericht habe zu Unrecht einen Behandlungsfehler bei der Frakturversorgung verneint. Die gewählte Methode sei nicht die erste Wahl gewesen. Die Klägerin sei auch nicht über mögliche Behandlungsalternativen nach der Erstversorgung aufgeklärt worden.
Die Klägerin stellt folgende Anträge:
- Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, wobei das Schmerzensgeld mindestens eine Höhe von 50.000,00 EUR haben sollte.
- Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schadenersatz i.H.v. 3.100,00 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- Es wird festgest...