Entscheidungsstichwort (Thema)
Bekanntgabe der Anklageschrift mit einer Übersetzung in einer dem Angeschuldigten verständlichen Sprache. Voraussetzungen für die Erteilung eines rechtlichen Hinweises bei Erweiterung der Tatvorwürfe
Leitsatz (redaktionell)
1. a) Einem Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ist die Anklageschrift mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekannt zu geben. Das ist zwingend erforderlich und folgt sowohl aus dem Recht jedes Angeklagten gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a MRK, unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden, als auch aus seinem Anspruch gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b MRK, seine Verteidigung ausreichend vorbereiten zu können.
b) Dies gilt auch, wenn der Angeklagte zwar deutscher Staatsangehöriger, aber in Kasachstan geboren und aufgewachsen ist, nach den Feststellungen zu seiner Person "Integrationsschwierigkeiten" und schulische Probleme hatte, sein Verteidiger schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens darauf hingewiesen hat, dass er "der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig" sei und an der Hauptverhandlung ein Dolmetscher teilgenommen hat, der für den Angeklagten übersetzte, da dann kein vernünftiger Zweifel besteht, dass der Angeklagte auf eine Übersetzung der Anklageschrift in seine Muttersprache angewiesen war; denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte - der in der Hauptverhandlung keinen Verteidiger hatte und sich nicht zur Sache eingelassen hat - mit einer anderen und erfolgreicheren Verteidigungsstrategie in die Hauptverhandlung gegangen wäre, wenn die Anklageschrift ihm schon vorher mit einer Übersetzung in seine Muttersprache bekannt gegeben worden wäre.
2. Legt die Anklage dem Beschwerdeführer (nur) zwei Straftaten zur, findet der Tatrichter in der Tat im prozessualen Sinne (§ 264 StPO) eine weitere Straftat (hier: Körperverletzung in drei Fällen), so muss er dem Angeklagten einen entsprechenden Hinweis gemäß § 265 StPO erteilen, der als wesentliche Förmlichkeit nach § 273 Abs. 1 StPO zu protokollieren ist.
Verfahrensgang
AG Erkelenz (Entscheidung vom 15.10.2009) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Jugendrichters des Amtsgerichts Erkelenz vom 15. Oktober 2009 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es ihn betrifft.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an den Strafrichter des Amtsgerichts Erkelenz zurückverwiesen.
Gründe
Die unverändert zugelassene Anklage wirft dem Angeklagten vor, in der Nacht zum 23. März 2008 bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppen junger Leute eine gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und eine weitere Körperverletzung begangen zu haben. Der Jugendrichter hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen zu sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge vorläufig Erfolg.
1. Einem Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ist die Anklageschrift mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekanntzugeben. Das ist "zwingend erforderlich" (KG StV 1994, 90) und folgt sowohl aus dem Recht jedes Angeklagten gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK, unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden, als auch aus seinem Anspruch gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b) MRK, seine Verteidigung ausreichend vorbereiten zu können (Senat VRS 100 [2001], 133 = StV 2001, 498; Stuckenberg, in: LR, 26. Aufl. [2008], § 201 StPO Rdnr. 18; Schneider, in: KK, 6. Aufl. [2008], § 201 StPO Rdnr. 4; jeweils mwN).
2. Der Angeklagte ist deutscher Staatsangehöriger, aber in Kasachstan geboren und aufgewachsen. Nach den Feststellungen zu seiner Person hatte er "Integrationsschwierigkeiten" und schulische Probleme. Sein Verteidiger hatte schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens darauf hingewiesen, dass er "der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig" sei. An der Hauptverhandlung hat ein Dolmetscher teilgenommen, der für den Angeklagten übersetzt hat. Bei dieser Sachlage besteht kein vernünftiger Zweifel, dass der Angeklagte auf eine Übersetzung der Anklageschrift in seine Muttersprache angewiesen war.
3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Angeklagte - der in der Hauptverhandlung keinen Verteidiger hatte und sich nicht zur Sache eingelassen hat - mit einer anderen und erfolgreicheren Verteidigungsstrategie in die Hauptverhandlung gegangen wäre, wenn die Anklageschrift ihm schon vorher mit einer Übersetzung in seine Muttersprache bekanntgegeben worden wäre. Deswegen ist das angefochtene Urteil nach §§ 353, 354 Abs. 2 Satz 1 StPO mit den Feststellungen aufzuheben, s...