Leitsatz (amtlich)
Die Hauptverhandlung kann grundsätzlich auch dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn dieser seine Verhandlungsunfähigkeit zwar nicht durch eigenes Tun oder Unterlassen herbeigeführt hat, aber eine zur Beseitigung dieser Verhandlungsunfähigkeit notwendige medizinische Behandlung nicht in Anspruch nimmt, sofern ihm dieses Verhalten als Verschulden anzurechnen ist. Maßgeblich ist dabei, ob ihm was unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist - die Durchführung der Behandlung zugemutet werden kann oder nicht.
Tenor
Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Düsseldorf, auch über die Kosten des Rechtsmittels, zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Düsseldorf hat den Angeklagten am 23. März 1998 wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Dagegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Durch den angefochtenen Beschluß vom 27. März 2000 hat die Jugendkammer des Landgerichts Düsseldorf das Verfahren nach § 205 StPO vorläufig eingestellt, "weil der Durchführung der Hauptverhandlung über die Berufung für längere Zeit ein in der Person des Angeklagten liegendes Hindernis entgegenstehe". Dieses Hindernis sei, so hat die Jugendkammer ausgeführt, die derzeitige Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten infolge einer schmerzbedingten psychischen Störung, die auf schweren Schäden vor allem an der Wirbelsäule beruhe. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, der die Jugendkammer nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ausdrücklich beigetreten. Dieses ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
In ihrer Zuschrift vom 6. Juni 2000 hat die Generalstaatsanwaltschaft zu der Beschwerde u. a. wie folgt Stellung genommen:
"Die Strafkammer ist unter Berücksichtigung eines Gutachtens des Gesundheitsamtes der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 2. März 2000 bei ihrer Entscheidung davon ausgegangen, daß bei dem Angeklagten derzeit eine orthopädisch begründete vorläufige Verhandlungsunfähigkeit bestehe. Sie hat ihrer Entscheidung ferner zugrunde gelegt, daß der Angeklagte den ihm bei der orthopädischen Untersuchung am 10. November 1999 vorgeschlagenen Therapieempfehlungen, von denen eine Linderung seiner Beschwerden und damit die Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit zu erwarten war, nicht gefolgt ist.
Ausgehend von dieser Sachlage begegnen der Entscheidung der Strafkammer auch deshalb Bedenken, weil sie nicht erkennen läßt, ob die Kammer die Möglichkeit erwogen hat, die Hauptverhandlung gemäß § 231 a Abs. 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten durchzuführen. Diese Vorschrift kann grundsätzlich auch auf die Fälle angewendet werden, in denen der Angeklagte die Verhandlungsunfähigkeit nicht durch eigenes Tun oder Unterlassen bewirkt, sondern eine zur Beseitigung der nicht von ihm herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit notwendige Behandlung nicht in Anspruch nimmt (zu vgl. Tolksdorf in Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl. , § 231 a Rdnr. 3; Löwe-Rosenberg/Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. , § 231 a Rdnr. 9).
Ob dem Angeklagten ein solches Verhalten als Verschulden anzurechnen ist, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden.
Ein Verschulden im Sinne des § 231 a StPO wird dann ausgeschlossen sein, wenn dem Angeklagten die Durchführung der ärztlichen Behandlung nicht zugemutet werden kann (zu vgl. Löwe-Rosenberg, a. a. O. ). Die Annahme einer solchen Unzumutbarkeit setzt jedoch voraus, daß die Behandlung mit besonderen Risiken und Beschwernissen versehen ist und deshalb nicht als unerheblich eingestuft werden kann (zu vgl. BVerfG, NStZ 1993, 598, 599; BGH, StV 1992, 553, 554).
Anhaltspunkte dafür, daß die durch das Gesundheitsamt angeratene Schmerztherapie diese Zumutbarkeitsgrenze überschreiten würde, sind dem Gutachten nicht zu entnehmen. Es enthält keine Angaben über Art, Umfang und Risiken der angeratenen Therapie. Mithin konnte die Strafkammer nicht ohne weitere Ermittlungen davon ausgehen, daß der Angeklagte sich nicht schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat.
In die Prüfung der Frage, wieweit dem Angeklagten sein Unterlassen als Verschulden anzurechnen ist, ist auch das übrige Verhalten des Angeklagten einzubeziehen (zu vgl. Löwe-Rosenberg, a. a. O. ).
Daher kann vorliegend nicht unberücksichtigt bleiben, daß nach dem Gutachten die den Bewegungsapparat betreffende Schmerzsymptomatik eine psychogene Überlagerung im Sinne einer demonstrativ-zweckgerichteten Verstärkung der vorhandenen Beeinträchtigung aufweist. Der Angeklagte, der, wie die durchgeführte psychiatrische Untersuchung am 20. Dezember 1999 ergeben hat, im übrigen bewußt eine Untersuchung seines tatsä...