Verfahrensgang

LG Limburg a.d. Lahn (Entscheidung vom 14.02.1996)

 

Tenor

Die Beschwerde wird verworfen.

Der Untergebrachte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen, wobei die Anordnung der Entlassung der Vollstreckungsbehörde obliegt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Untergebrachten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe

I.

Am 14.02.1996 verurteilte das Landgericht Limburg den Untergebrachten und Beschwerdegegner wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen sowie wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten. Weiterhin wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB angeordnet. Die geahndeten Taten wurden im Sommer 1995 begangen. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist darauf zurückzuführen, dass der Verurteilte bereits zwölf Vorstrafen aufwies, wobei es sich hierbei in 3 Fällen um Verurteilungen unter anderem wegen sexuellen Kindesmissbrauches handelte und in einem Fall um eine Verurteilung vom 12.03.1974 wegen Mordes an einem 9-jährigen Jungen.

Der Verurteilte befindet sich nach vollständiger Verbüßung der genannten Freiheitsstrafe seit dem 28.07.1999 im Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Die Gesetzesänderung, die die Sicherungsverwahrung über 10 Jahre hinaus zuließ, erfolgte am 30.01.1998. Die nach Tatzeitrecht gemäß § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB a.F. gültige Zehnjahresfrist für die Unterbringung war am 28.07.2009 erreicht. Mit Beschluss vom 29.09.2009 lehnte die Strafvollstreckungskammer die Erledigung der Sicherungsverwahrung nach § 67 d Abs. 3 StGB n.F. ab. Rechtsmittel wurden gegen diesen Beschluss nicht eingelegt.

Gestützt auf das im Wege der Individualbeschwerde des Untergebrachten A ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vom 17.12.2009, welches eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 MRK sowie eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK durch die Freiheitsentziehung des Untergebrachten über den Ablauf der Zehnjahresfrist hinaus bejaht hatte, da nach alter Rechtslage die Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre beschränkt gewesen sei, beantragte der Untergebrachte mit Schriftsatz vom 12.05.2010 seine sofortige Entlassung aus der Sicherungsverwahrung.

Mit Beschluss vom 27.05.2010 erklärte die Strafvollstreckungskammer die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung für unzulässig.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Marburg.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

Zu Recht hat die Kammer die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gem. § 458 I StPO für unzulässig erklärt.

Der Senat hat im oben genannten Verfahren gegen A, in dessen Sache die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 ergangen ist, mit Beschluss vom 24.06.2010 folgendes ausgeführt:

"Gem. § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK ist für die gegen den Untergebrachten angeordnete Sicherungsverwahrung nicht § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB n.F., sondern die zur Tatzeit geltende Regelung des § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB a.F. anzuwenden.

Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 17.12.2009 die Sicherungsverwahrung - ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als Maßregel der Sicherung und Besserung - als Strafe i.S.v. Art. 7 Abs. 1 MRK qualifiziert. Im Wegfall der Höchstfrist sieht er eine konventionswidrige Rückwirkung, da der zur Tatzeit geltende § 67 d Abs. 1 StGB eine Höchstfrist von 10 Jahren für die erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung vorsah (EGMR, NStZ 2010, 263 ff).

Strafvollstreckungskammer und Senat sind zur Berücksichtigung dieses Urteils des EGMR, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand zu befinden haben (vgl. BVerfG, NJW 2004, 3407 ff.) Dies ist hier auf Grund des gestellten Antrags nach § 458 Abs. 1 StPO der Fall. Bei der erneuten Befassung besteht die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung der anzuwendenden innerstaatlichen Vorschriften den Vorrang zu gewähren, wenn diese nicht eindeutig dem - ranggleichen - Gesetzesrecht des Bundes oder Verfassungsrecht - namentlich den Grundrechten Dritter - widerspricht (BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411).

§ 2 Abs. 6 StGB ermöglicht eine derartige Berücksichtigung des Urteils des EGMR.

Nach § 2 Abs. 6 StGB ist zwar über Maßregeln der Sicherung und Besserung grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Art. 7 Abs. 1 MRK in der nunmehrigen Auslegung durch den EGMR ist aber eine andere gesetzliche Bestimmung i. S. von § 2 Abs. 6 StGB (vgl. BGH, Beschl. v. 12.05.2010 - 4 StR 577/09, Rn 14 ff. - [...]; Grabenwarter, Rechtsgutachten zu den Rechtsfolgen des Urteils des EGMR vom 17.12.2009 [Nr. 19359/04] v. 15.01.2010 [unv.], S. 45). Die Konventio...

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