Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersuchungshaftgrund der Fluchtgefahr. Bewertung des Fluchtanreizes
Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung des Haftgrundes der Fluchtgefahr ist die Netto-Straferwartung für die Bewertung des Fluchtanreizes maßgeblich.
Normenkette
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2, § § 112 ff., § 116
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 12.11.2013; Aktenzeichen 5/22 Ks 13/11 - 61/50 Js 25777/94) |
Tenor
Der angefochtene Beschluss sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16.01.2007 in der Fassung des Beschlusses der 22. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Frankfurt am Main vom 12.07.2012 werden aufgehoben.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls.
Die Angeklagte ist der ihr im Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16.01.2007 in der Fassung des Beschlusses der 22. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Frankfurt am Main vom 12.07.2012 nach weiterer Maßgabe des Urteils vom 12.11.2013 zur Last gelegten Straftaten der Beihilfe zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, dem versuchten Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und der versuchten schweren Brandstiftung dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus dem Urteil vom 12.11.2013. Denn nach Erlass eines nichtrechtskräftigen Urteils ist für die Annahme des dringenden Tatverdachts in aller Regel auf die Würdigung des Tatgerichts zurückzugreifen (vgl. Meyer-Goßner, 56. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 7; Karlsruher Kommentar, 7. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 7a; Löwe-Rosenberg-Hilger, 26. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 20; Senatsbeschl. v. 26.04.2013, 1 Ws 73/13). Das Ergebnis der Beweisaufnahme der Hauptverhandlung, das im Urteil seinen Niederschlag gefunden hat, kann das Beschwerdegericht grundsätzlich nicht anders nachvollziehen, als das Tatgericht es vermittelt (st. Rechtspr. d. Senats, vgl. z.B. Senat aaO. sowie Beschl. v. 07.01.2013, 1 Ws 137/12 m.w.N.). Vorliegend haben die Angeklagte und die Nebenklage gegen das Urteil zwar Revision eingelegt. Das Beschwerdegericht ist grundsätzlich auch nicht an einer vorausschauenden Beurteilung eines Rechtsmittels gehindert. Das Beschwerdegericht kann aber in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht nur eingreifen, wenn die angefochtene Haftentscheidung grob fehlerhaft erscheint oder deren Gründe in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar erscheinen (vgl. BGH Strafverteidiger 1991, 525; Senatsbeschl. v. 26.04.2013, 1 Ws 73/13). Für eine solche der Angeklagten günstige Prognose auf das Endergebnis ihrer Revision fehlen aber hinreichende Anhaltspunkte.
Indes besteht kein Haftgrund mehr:
Die Angeklagte ist vom Vorwurf des tateinheitlichen Mordes in vier Fällen - wobei es in einem Fall beim Versuch blieb - in weiterer Tateinheit mit Geiselnahme (Fall Ziffer 1. der Anklageschrift vom 24.10.2011) freigesprochen worden. Damit besteht kein dringender Tatverdacht hinsichtlich einer Straftat wider das Leben mehr, so dass der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO weggefallen ist.
Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, auf welchen die Strafkammer die Aufrechterhaltung des Haftbefehls stützt, liegt nicht mehr vor. Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. Meyer-Goßner aaO., § 112 Rdnr. 17). Die nichtrechtskräftige Verurteilung der Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten bietet aber unter Anrechnung der bisher - vom 14.09.2011 bis zum 12.11.2013 - erlittenen Untersuchungshaft von ca. 26 Monaten sowie der nach dem Urteil vom 12.11.2013 anzurechnenden Auslieferungshaftzeiten - vom 16.01.2000 bis zum 22.03.2000 und vom 30.10.2007 bis zum 28.11.2007 - von insgesamt ca. 3 Monaten keinen erheblichen Anreiz mehr, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten. Bei der Frage der Straferwartung kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an; zu berücksichtigen ist daher, dass die Untersuchungshaft angerechnet wird und ob die Angeklagte mit einer Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB rechnen kann (vgl. Meyer-Goßner aaO. Rdnr. 23 m.w.N.). Maßgeblich für die Bewertung des Fluchtanreizes ist damit die Netto-Straferwartung. Die Angeklagte hat aber vorliegend keine weitere Strafvollstreckung mehr zu erwarten. Aufgrund der bisher erlittenen Untersuchungs- und Auslieferungshaft, welche anzurechnen sind hat die Angeklagte bereits ca. 2 Jahre und 5 Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe verbüßt, so dass lediglich noch ca. 1 Jahr und 1 Monat der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe offen stehen. Diese sind nach derzeitigem Sachstand aber bei der Nettostraferwartung nicht zu berücksichtigen, da die Angeklagte hiernach mit einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB rechnen kann. Der hierm...