Entscheidungsstichwort (Thema)
Sicherungsverfahren. Vernehmungsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Sicherungsverfahren ist auch bei Vernehmungsunfähigkeit des Betroffenen zulässig.
Normenkette
StPO §§ 206a, 413
Verfahrensgang
LG Kassel (Entscheidung vom 20.09.2017; Aktenzeichen 10 KLs 4710 Js 17180/14) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Kassel - 10. Große Strafkammer - vom 20. September 2017 aufgehoben.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft legt dem Betroffenen in dem gegen ihn laufenden Sicherungsverfahren gem. § 413 ff. StPO in der Antragsschrift vom 17. Juli 2015 (Az: 470 Js 17180/14) 12 Fälle der Körperverletzung, begangen im Zeitraum zwischen dem ... 2010 und dem ... 2014, zur Last, wobei in drei Fällen die Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges begangen worden sein soll. Mit Beschluss vom 02. Mai 2016 wurde das Hauptverfahren eröffnet und die Antragsschrift zur Hauptverhandlung zugelassen.
In einer weiteren, ursprünglich bei der 5. Strafkammer des Landgerichts O1 eingegangenen Antragsschrift vom 29. September 2016 (Az: ...) werden dem Betroffenen 2 weitere Körperverletzungshandlungen (Tatzeit: ... 2016 und ... 2016) zur Last gelegt. Mit Beschluss der 10. Strafkammer des Landgerichts Kassel vom 16. Dezember 2016 wurde das Verfahren ... von der 5. Strafkammer des Landgerichts O1 übernommen und zum dort bereits anhängigen Verfahren 470 Js 17180/14 hinzu verbunden. Mit Beschluss vom 06. September 2017 ließ die 10. Strafkammer des Landgerichts Kassel unter Eröffnung des Hauptverfahrens auch die Antragsschrift vom 29. September 2016 zur Hauptverhandlung zu.
Die Sachverständige A hat den Betroffenen begutachtet und sich in ihrem Gutachten vom 21. Januar 2015 zur Frage der Schuldfähigkeit und einer eventuellen Unterbringung sowie in einer ergänzenden Stellungnahme vom 09. Juni 2016 zur Frage der Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen geäußert. Sie führt unter anderem aus, dass bei dem Betroffenen eine leichte bis eher mittelgradige geistige Behinderung sowie der Verdacht auf eine Autismusspektrumserkrankung bestehe. Darüber hinaus läge eine Sprachentwicklungsstörung der expressiven Sprache sowie massive Defizite im rezeptiven Sprachverständnis vor. In ihrer Stellungnahme vom 09. Juni 2016 führt sie ergänzend aus, dass der Betroffene aufgrund seiner tiefgreifenden Verhaltens- und Entwicklungsstörung im Sinne einer Autismusspektrumsstörung in seinen kognitiven Fähigkeiten erheblich eingeschränkt und seine soziale Interaktion stark gestört sei. Seine Fähigkeit, Bedürfnisse und Emotionen an eine Bezugsperson zu kommunizieren, sei nur sehr gering. Aufgrund seiner schwerwiegenden Sprachstörung setze er das ihm verfügbare Repertoire an sprachlichen Ausdrücken stereotyp und autostimulativ ein. Er sei nicht fähig, Sprache dialogisch zu verwenden oder aktiv zu kommunizieren. Auch sei er weder in der Lage, die verfahrensgegenständlichen Delikte noch die Situation vor Gericht zu begreifen und sich irgendwie in das Verfahren einzubringen.
Mit Beschluss vom 20. September 2017 stellte das Landgericht Kassel - 10. Große Jugendkammer - das Verfahren entsprechend § 206a StPO ein. Die Kammer erachtete - ausgehend von den Ausführungen der Sachverständigen A - aufgrund des nicht einmal ansatzweise vorhandenen Vermögens des Betroffenen, die Prozesssituation und die Rolle der Beteiligten zu erfassen, sowie aufgrund seiner fehlenden Kommunikationsfähigkeiten die Durchführung eines Sicherungsverfahrens als rechtstaatlich nicht vertretbar. Eine "Vernehmung zur Sache" würde zu einer Farce werden. Fehle es aber dauerhaft an einer Vernehmungsfähigkeit, könne das Sicherungsverfahren nicht stattfinden. Dem Betroffenen würde ansonsten ein elementares Recht, nämlich die Möglichkeit, zu Wort zu kommen, vorenthalten.
Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft am 26. September 2017 sofortige Beschwerde ein.
II.
Die gemäß §§ 206a Abs. 2, 311 StPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat auch in der Sache Erfolg.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das Verfahren nicht wegen eines Verfahrenshindernisses nach § 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.
Gemäß § 414 Abs. 1 StPO gelten für das Sicherungsverfahren die Vorschriften über das Strafverfahren sinngemäß, soweit nichts anderes bestimmt ist. Die Anwendung von § 206a Abs. 1 StPO im Fall der Verhandlungsunfähigkeit kommt im Sicherungsverfahren allerdings nicht in Betracht (KG Berlin, Beschluss vom 17.09.1997 - 1 AR 737/97 - 5 Ws 371/97 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 60. Auflage § 414 Rdn. 1). Denn die Verhandlungsunfähigkeit stellt gemäß § 412 StPO kein Ausschluss-, sondern im Gegenteil ein Eingangskriterium für das Sicherungsverfahren dar. Dies gilt auch für den Fall, dass der Betroffene über die Verhandlungsunfähigkeit hinaus vernehmungsunfähig ist.
Zwar wird teilweise in der Literatur die Ansicht vertreten, dass bei vollständiger, dauerhafter Vernehmungsunfähigkeit des Betroffenen in d...