Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafaussetzung zur Bewährung. Erforderlichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers
Leitsatz (amtlich)
Dem Verurteilten ist für die anstehende Entscheidung, ob die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt wird, ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn der Verurteilte bei der für die Entscheidung notwendigen Erörterung eines gerichtlich eingeholten Prognosegutachtens intellektuell und sprachlich überfordert ist.
Normenkette
StGB § 57 Abs. 1; StPO § 140 Abs. 2, § 454 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Gießen (Entscheidung vom 29.08.2014; Aktenzeichen 1 StVK 279/14) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Vorsitzenden der 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Gießen vom 29. August 2014 aufgehoben.
Für die anstehende Entscheidung, ob die Vollstreckung des Restes der Freiheitstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Gießen vom 21. Oktober 2011 zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wird dem Verurteilten Rechtsanwalt A aus O1 zum Verteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Untergebrachten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat es abgelehnt, dem Verurteilten für die anstehende Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO einen Verteidiger zu bestellen. Dagegen wendet sich der Verurteilte mit der Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.
Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.
Über die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei hat er einen Beurteilungsspielraum (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 57. Aufl. § 140 Rdn. 22 m. Nachw.). Der Senat kann seine Entscheidung nur auf Ermessensfehler hin überprüfen (vgl. Senat, Beschluss vom 4. Juni 2007 - 3 Ws 528+529/07). Allerdings sind dem Ermessen durch die Rechtsbegriffe der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage Grenzen gesetzt (Meyer-Goßner/Schmitt aaO.).
Auch nach diesem eingeschränkten Maßstab erweist sich die angefochtene Entscheidung als ermessensfehlerhaft. Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- oder Rechtslage schwierig oder wenn sonst ersichtlich ist, dass sich der Verurteilte nicht selbst sachgerecht verteidigen kann oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist. Dabei ist allerdings nicht auf die Schwere oder besondere Schwierigkeiten im Erkenntnisverfahren, sondern die Schwere des Vollstreckungsfalles abzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO. Rdn. 33 m.N.).
Dies hat der Vorsitzende auch nicht verkannt. Er hat bedacht, dass sich eine besondere Schwierigkeit des Vollstreckungsfalles daraus ergeben kann, dass das Gericht ein Prognosegutachten nach § 454 Abs. 2 StPO einholt. Dies gilt namentlich dann, wenn das Gutachten psychiatrisch-neurologische, psychoanalytische, kriminologische oder rechtliche Fragestellungen aufwirft, mit deren Beurteilung der Betroffene überfordert ist (Senat, Beschluss vom 24. April 2008 - 3 Ws 389 + 390/08; KG StV 2007, 94; Brandenburgisches OLG StV 2007, 95; Schleswig-Holsteinisches OLG SchlHA 2008, 175; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 2. Oktober 2013 - 1 Ws 591/13 - juris).
So liegt die Sache hier. Das Gutachten ist für den Verurteilten nicht nur günstig. Der Sachverständige befürwortet zwar die bedingte Entlassung, hält aber eine ambulante psychotherapeutische Behandlung für notwendig. Eine solche Maßnahme, die dann naheliegend in Form einer Weisung im Rahmen der Bewährungsaufsicht erfolgen würde, hat für den Verurteilten belastenden Charakter. Da der Verurteilte die Notwendigkeit der vom Sachverständigen vorgeschlagenen Behandlung nicht einsieht (GA Seite 37), bedarf das Gutachten näherer Erörterung. Die Ausführungen des Sachverständigen mögen für einen sachkundigen Leser, der die Fachterminologie kennt, gut verständlich sein. Abzustellen ist jedoch auf die Verständnismöglichkeiten des konkreten Verurteilten (Schleswig-Holsteinisches OLG aaO.; OLG Sachsen-Anhalt aaO.). Auf sich allein gestellt wäre der Beschwerdeführer damit intellektuell und sprachlich überfordert. Er hat in B den Hauptschulabschluss erlangt, verfügt aber über keinen Berufsabschluss. Die nach Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland begonnene Berufsausbildung zum Koch musste er wegen Sprachschwierigkeiten abbrechen. Seit 2006 bis zu seiner Inhaftierung lebte er von Arbeitslosengeld II. Wegen der fortbestehenden unzureichenden Deutschkenntnisse war es dem Sachverständigen anlässlich der Exploration nicht möglich, Persönlichkeitstests durchzuführen, weil der Verurteilte außer Stande war, die entsprechenden Fragebögen auszufüllen (GA Seite 6).
Obwohl die Auswahl des Verteidigers dem Vorsitzenden obliegt, kann der Senat hier selbst entscheiden und ordnet dem Verurteilten den von ihm ausgewählten Rechtsanwalt A bei, weil jed...