Entscheidungsstichwort (Thema)

Gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung: Beurteilung einer Auseinandersetzung über die Billigkeit von Gaspreiserhöhungen als energiewirtschaftliche Streitigkeit; Voraussetzung für eine Zuständigkeit der Kartellgerichte; Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses bei Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei Auseinandersetzungen über die Billigkeit von einseitigen Preiserhöhungen von Energieversorgern handelt es sich nicht um eine Streitigkeit gem. § 102 EnWG.

2. Die Zuständigkeit der Kartellgerichte ist nur gerechtfertigt, wenn ein kartellrechtlich relevanter Sachverhalt von einer Partei durch konkreten Tatsachenvortrag dargelegt wird.

3. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt wegen Verletzung rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht auf den die Zuständigkeit betreffenden Kern des Vortrags einer Partei in keiner Weise eingeht.

 

Normenkette

BGB § 315 Abs. 1; EnWG § 102 Abs. 1 Sätze 1-2; GWB § 87 Sätze 1-2; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281 Abs. 2 S. 4; GG Art. 103 Abs. 1

 

Tenor

Das AG Gießen wird gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO als das zuständige Gericht bestimmt.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt mit der beim AG Gießen eingereichten Klage restliches Entgelt für Energielieferungen.

Sie belieferte den Beklagten für mehrere Jahre mit Erdgas. Von den mit den Jahresabrechnungen 2005-2008 geltend gemachten Forderungen der Klägerin, die unter Berücksichtigung von verschiedenen seit dem Jahre 2005 seitens der Klägerin vorgenommenen Preiserhöhungen errechnet wurden, hat der Beklagte insgesamt 2.026,02 EUR nicht bezahlt.

Der Beklagte hat die sachliche Zuständigkeit des AG gerügt. Er ist der Auffassung, vorliegend sei nach § 102 EnWG das LG - Kammer für Handelssachen - zuständig, weil bei der Entscheidung darüber, ob die Klägerin zu den einseitigen Preiserhöhungen gem. § 315 Abs. 1 BGB berechtigt gewesen sei, Vorfragen nach dem Energiewirtschaftsgesetz geklärt werden müssten. Es seien außerdem kartellrechtliche Fragen zu entscheiden, weil die Klägerin durch die einseitige Erhöhung ihrer Bezugspreise ihre Monopolstellung missbraucht habe.

Die Klägerin ist der Auffassung, es handele sich nicht um eine energierechtliche Streitigkeit im Sinne des EnWG, sondern es seien allein vertragsrechtliche Fragen zu entscheiden, so dass § 102 EnWG nicht einschlägig sei. Sie legt dem AG ihre Ansicht unter Angabe mehrerer einschlägiger obergerichtlicher Entscheidungen ausführlich dar.

Auf den hilfsweise gestellten Verweisungsantrag der Klägerin hin hat sich das Amtgericht Gießen nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 19.8.2010 für sachlich unzuständig erklärt und die Sache an das LG Gießen - Kammer für Handelssachen - verwiesen. In dem Beschluss heißt es einleitend, die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen ergebe sich auch nach Kenntnisnahme der von der Klägerin vorgebrachten Argumente und der von ihr angegebenen Entscheidungen aus § 102 EnWG. Zur Begründung führt das AG sodann aus, die Klägerin sei nach § 1 EnWG zu einer sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten und umweltverträglichen Versorgung der Allgemeinheit verpflichtet. Für die Frage, ob die Festsetzung des Gaspreises durch die Klägerin der Billigkeit entspreche, sei die Frage der korrekten Preisgestaltung somit nach dem Energiewirtschaftsgesetz zu beantworten. Die vom EnWG vorgegebenen Wertmaßstäbe hätten bei der Frage der Billigkeit der Preiserhöhungen eine leitende Bedeutung. Auch sei die Prüfung der Billigkeit des Tarifs eine in ihrer Bedeutung über das einzelne Vertragsverhältnis hinausgehende grundsätzliche Frage, weshalb die Konzentration auf einen örtlichen Spruchkörper interessengerecht sei. Die von der Klägerin angeführten Gegenargumente finden in dem Verweisungsbeschluss keine Erwähnung.

Mit Beschluss vom 1.9.2010 hat sich das LG Gießen - Kammer für Handelssachen - ebenfalls für sachlich unzuständig erklärt und die Sache dem Senat vorgelegt. Seine Zuständigkeit folge nicht aus § 102 EnWG, weil das Gesetz nur das "Ob" des Abschlusses eines Versorgungsvertrages, nicht aber die dem Vertragsverhältnis zugrunde liegenden Einzelheiten, einschließlich der Preisbestimmung, regele. Nicht ausreichend sei irgendeine Berührung mit dem Energiewirtschaftsgesetz; die zu treffende Entscheidung müsse vielmehr von einer Vorfrage abhängig sein, die nach dem Energiewirtschaftsgesetz zu beurteilen sei. Dies sei bei der Frage, ob einseitig vorgenommene Preiserhöhungen der Billigkeit entsprächen, nicht der Fall. Ob eine Kartellsache vorliege, könne offen bleiben, da für solche Klagen das LG Frankfurt/M. ausschließlich zuständig sei. Dem Verweisungsbeschluss des AG Gießen komme auch keine Bindungswirkung zu, weil sich das AG nicht mit der von Klägerseite zitierten gegenteiligen Rechtsansicht, einschließlich der Rechtsprechung des gemeinsamen Obergerichts, auseinandergesetzt habe.

II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das LG als auch das AG ...

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