Leitsatz (amtlich)
›1. Ist die Menschenwürde durch eine gemeinschaftliche Unterbringung mehrerer Gefangener in einem Haftraum verletzt, begründet allein dieser schwer wiegende Grundrechtsverstoß - und zwar unabhängig von seiner konkreten Dauer - das Interesse des Gefangenen, die Rechtswidrigkeit dieser Unterbringung gerichtlich feststellen zu lassen.
2. Die Mehrfachbelegung eines Haftraums verletzt jedenfalls dann die Menschenwürde, wenn sich - unbeschadet des vorhandenen Luftraumvolumens - drei Gefangene eine Zelle von 11,54 m² einschließlich abgetrennter und gesondert gelüfteter Toilette (davon ca. 9 m² eigentliche Zellengröße) teilen müssen.‹
Verfahrensgang
LG Gießen (Aktenzeichen 2 StVK - Vollz 1470-1471/03) |
Gründe
Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten der Staatskasse, die auch die insoweit etwa entstandenen notwenigen Auslagen des Gefangenen zu tragen hat, als unzulässig verworfen, da eine Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 116 StVollzG).
Zwar werden, solange von der Ermächtigung des § 144 II StVollzG kein Gebrauch gemacht worden ist, die Grenzen für die Ausgestaltung des Haftraums nur durch das Grundrecht der Wahrung der Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Verbot der unmenschlichen Behandlung (Art. 3 MRK) gezogen (vgl. Senat, NStZ 1985, 572 [573]; StV 1988, 540; OLG Koblenz, ZfStrVo 1980, 191; OLG Zweibrücken, NStZ 1982, 221; OLG Hamm; NStZ 1989, 592; 1992, 352). Ist indes die Menschenwürde verletzt, begründet allein dieser tiefgreifende Grundrechtsverstoß und zwar unabhängig von der konkreten Dauer dieser Grundrechtsverletzung (vgl. Senat, NJW 2003, 2843 [2845] m.H. auf BVerfG, NJW 2002, 2699; StV 1988, 540) das Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Gefangenen(§ 115 III StVollzG) nach Erledigung der menschenrechtswidrigen Unterbringung (hier: durch Verlegung in eine Einzelzelle). Einer - zusätzlichen - Wiederholungsgefahr bedarf es entgegen der Ansicht von Vollzugsanstalt und Aufsichtsbehörde nicht.
Wann ein solcher "extremer Überbelegungsfall" (Huchting/Lehmann, in: AK-StVollzG, 3. Aufl, § 144 Rn 4) i. S. einer Verletzung der Menschenwürde gegeben ist, d.h. welche Mindestgröße der Haftraum bei dessen Mehrfachbelegung nicht unterschreiten darf, hat die Rechtsprechung noch nicht völlig geklärt (vgl. die Zusammenstellung bei Arloth/Lückemann, StVollzG, § 144 Rn 2 und Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl., § 144 Rn 1). In seiner Grundsatzentscheidung vom 18.7.2003 (NJW 2003, 2843 ff.) hat der Senat ausgesprochen, dass eine solche Verletzung jedenfalls vorliegt, wenn - kumulativ - der Haftraum mit einer nicht abgetrennten oder nicht gesondert entlüfteten Toilette ausgestattet ist, und ein gewisses Mindestmaß für jeden Gefangen an Luftraum (16 m3) oder Bodenfläche (6 bzw. 7 m2) unterschritten ist. Daraus ist indes ( wie schon aus der Jedenfalls - Formulierung ersichtlich ist) nicht zu folgern, dass allein die Unterschreitung der genannten Mindestgrundfläche (also ohne gleichzeitige Ausstattung der Zelle ohne abgetrennte Toilette) noch keine Menschenrechtswidrigkeit der gemeinschaftlichen Unterbringung begründen könne. Die Rechtsprechung hat sich allerdings bisher noch nicht dazu bekannt, welches konkrete Ausmaß der Unterschreitung hierzu erforderlich ist. Auch der vorliegende Fall zwingt jedoch nicht zu einer derartigen Konkretisierung.
In einem obiter dictum hat das OLG Celle (NStZ-RR 2003, 316 [317 letzter Absatz der Entscheidung] ausgesprochen, bei einer Zellengröße von 9,82 m2 mit räumlich abgetrennter Nasszelle von 1,42 m2 stelle die Belegung des Haftraums mit zwei Gefangenen nur eine Verletzung einfachen Rechts, nicht hingegen von Art. 1 I GG dar. In seinen Entscheidungen vom 15.8.1985 (NStZ 1985, 572) und vom 2.4.1987 (StV 1988, 540) hat der Senat demgegenüber ausgeführt, dass durch die Belegung eines Haftraums, der lediglich eine Grundfläche von 11, 54 m2 aufweist, mit drei Gefangenen, die Fortbewegungsmöglichkeit und Freizeitbeschäftigung bereits derartig eingeschränkt ist, dass von einer menschenwürdigen Unterbringung nicht mehr die Rede sein kann. Wegen räumlichen Enge könnten sich die Gefangenen nicht gleichzeitig in der Zelle bewegen, der Haftraum könne weder mit eigenen Sachen ausgestattet, noch könnten Gegenstände zur Fortbildung oder Freizeitbeschäftigung besessen werden. Ob der Rauminhalt der Zelle ausreichend war, spielte deshalb keine Rolle. Auf die durch die Ausstattung des in der Vorentscheidung beurteilten Haftraums mit einer nur durch eine Schamwand abgetrennten Toilette begründete Verletzung der Intimsphäre, des Schamgefühls und der Ekelgrenze wurde nur ergänzend hingewiesen, für das Verdikt der Menschenrechtswidrigkeit war sie nicht maßgeblich (vgl. NStZ 1985, 572 [573, 3. + 4. Abs.]. An dieser, der genannten Entscheidung des OLG Celle nicht widersprechenden Rechtsprechung hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung fest. Eine Mehrfachbelegung des Haftraums verletzt also jeden...