Entscheidungsstichwort (Thema)

Erörterung. Verständigung. Negativattest. Beweiskraft. Rechtsmittelverzicht. Wirksamkeit. Beweiskraft des fehlenden Negativattests. Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichtes bei fehlender Klarheit über stattgehabte Verständigung. Klärung im Freibeweisverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Enthält das Hauptverhandlungsprotokoll weder eine Verständigung nach § 257c StPO, noch ein sogenanntes Negativattest nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO, sondern lediglich den Vermerk, "die Sache und Rechtslage wurde erörtert", ist die Frage ob eine Verständigung oder lediglich eine Erörterung stattgefunden hat, im Freibeweisverfahren aufzuklären.

2. Ein (noch in der Hauptverhandlung) erklärter Rechtsmittelverzicht ist gemäß § 302 Satz 2 StPO nur unwirksam, wenn die Urteilsabsprache nachgewiesen ist.

 

Normenkette

StPO §§ 257b, 257c, 273 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a S. 1, § 302 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 14.12.2009; Aktenzeichen 5/07 Ns - 6140 Js 257764/08 (160/09))

 

Tenor

Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 I StPO) verworfen.

 

Gründe

Durch Strafbefehl vom 29.12. 2008 wurden gegen den Angeklagten wegen Beleidigung eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 25 € verhängt. Durch weiteren Strafbefehl vom 15.06.2009 wurde gegen den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 25 € verhängt. Nach rechtzeitigem Einspruch und Verbindung der beiden Verfahren fand vor dem Amtsgericht am 10.9. 2009 die Hauptverhandlung statt. Ausweislich des Protokolls wurde zu Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 243 IV StPO mitgeteilt, dass Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 StPO nicht stattgefunden haben. Nach Vernehmung zweier Zeuginnen vermerkt das Protokoll, dass die Sach- und Rechtslage erörtert worden sei. Ausweislich des Protokolls erklärten der Angeklagte und der Verteidiger danach, dass "der Einspruch gegen den Strafbefehl vom 29.12.2008 und 05.06.2009 auf die Tagessatzhöhe beschränkt" werde, und die Vertreterin der Anklagebehörde der Einspruchsbeschränkung zustimme.

Das Protokoll enthält keinen Hinweis auf eine Verständigung nach § 257 c StPO, aber auch nicht das Negativattest gemäß § 273 I a S. 3 StPO (das entsprechende Kästchen im Formularvordruck ist nicht angekreuzt).

Der Angeklagte wurde in der Hauptverhandlung vom 10.09.2009 zu einer Gesamtgeldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt. Nach Rechtsmittelbelehrung erklärten laut Protokoll der Angeklagte nach Rücksprache mit seinem Verteidiger und die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Rechtsmittelverzicht, der vorgelesen und genehmigt wurde.

Mit Schreiben vom 17.09.2009, eingegangen am selben Tage, legte der Angeklagte durch seinen Verteidiger Berufung ein. Er macht geltend, es habe eine Verständigung stattgefunden, so dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam sei.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 10.09.2009 als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte wirksam auf Rechtsmittel verzichtet habe.

Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Im Ergebnis zu Recht ist die Kammer davon ausgegangen, dass die eingelegte Berufung auf Grund des erklärten Rechtsmittelverzichts unzulässig ist. Zwar ist nach § 302 S. 2 StPO ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen, ein dennoch erklärter mithin unwirksam, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. Hiervon kann aber vorliegend nicht ausgegangen werden.

Das Hauptverhandlungsprotokoll enthält keine Verständigung, obwohl gem. § 273 Ia StPO der wesentliche Ablauf, der Inhalt und das Ergebnis einer Verständigung zu protokollieren sind. Da es sich um eine in § 273 StPO ausdrücklich erwähnte zu protokollierende Förmlichkeit handelt, entfaltet das Protokoll negative Beweiskraft (§ 274 StPO, vgl. auch BGH, NStZ 2007, 355). Danach hätte eine Urteilsabsprache nicht stattgefunden.

Nach § 273 Ia S. 3 StPO muss jedoch ins Protokoll ebenfalls aufgenommen werden, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat (sog. "Negativattest"). Auch insoweit handelt es sich um eine in § 273 StPO ausdrücklich vorgeschriebene Förmlichkeit, die nach § 274 positive aber auch negative Beweiskraft entfaltet. Danach hätte eine Urteilsabsprache stattgefunden. Die Erklärung eingangs des Protokolls, dass Erörterungen gem. §§ 202a, 212 StPO nicht stattgefunden hätten, kann sich hingegen nur auf die die Zeit bis zur Hauptverhandlung beziehen.

Mithin enthält das Protokoll auf Grund seiner jeweils negativen Beweiskraft sich widersprechende Feststellungen zur Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung stattgefunden hat, womit seine Beweiskraft insoweit entfällt (vgl. BGHSt 16, 306, 308; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 274 Rn 16). Es kann ferner auf Grund des im Protokoll enthaltenen Vermerks, es sei die Sach- und Rechtslage erörtert worden, nicht davon ausgegangen werden, dass nur eine Erörterung i.S. des § 257 b StPO stattgefunden...

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