Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässigkeit weiterer Sicherungsverwahrung
Leitsatz (amtlich)
1. Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt (§ 2 Abs. 2 StGB). "Gesetz" in diesem Sinne ist auch die Menschenrechtskonvention (MRK) in der Auslegung durch den EGMR.
2. Die Sicherungsverwahrung ist nach der MRK ebenso zu behandeln wie eine Strafe (EGMR vom 17. Dezember 2009, NStZ 2010, 263 ff.). Die MRK verbietet es, eine höhere Strafe zu verhängen als diejenige, die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedroht war. Die Dauer der Sicherungsverwahrung darf also ebenso wenig nachträglich verlängert werden wie die Dauer der Freiheitsstrafe.
Normenkette
StGB § 2 Abs. 2, §§ 66, 67d; EMRK Art. 5 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Marburg (Entscheidung vom 17.05.2010; Aktenzeichen 7 StVK 220/10) |
Tenor
Die Beschwerde wird verworfen.
Der Untergebrachte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen, wobei die Anordnung der Entlassung der Vollstreckungsbehörde obliegt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Untergebrachten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I. Am 17.08.1986 hatte das Landgericht Marburg den Untergebrachten wegen einer am ... 1985 begangenen Tat des versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub schuldig gesprochen, ihn zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 I StGB angeordnet.
Der Verurteilte befindet sich nach voller Verbüßung der genannten Freiheitsstrafe seit dem 18.08.1991 im Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Die nach Tatzeitrecht gemäß § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB a. F. gültige Zehnjahresfrist für die Unterbringung war spätestens am 08.09.2001 erreicht.
Mit Beschluss vom 10.04.2000 setzte die Strafvollstreckungskammer die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht zur Bewährung aus. Die Beschwerde des Untergebrachten beim Oberlandesgericht und seine Verfassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg (BVerfG, Beschluss vom 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01 - Juris).
Auf die Individualbeschwerde des Untergebrachten stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) durch inzwischen rechtskräftiges Urteil vom 17.12.2009 eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 MRK sowie eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK durch die Freiheitsentziehung des Untergebrachten über den 08.09.2001 hinaus fest.
Nach Eintritt der Rechtskraft dieser Entscheidung beantragte der Untergebrachte mit Telefaxschreiben vom 11.05.2010, die Vollstreckung der Maßregel "zu beenden, weil sie unzulässig geworden" sei.
Mit Beschluss vom 17.05.2010 erklärte die Strafvollstreckungskammer die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung für unzulässig.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Marburg.
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
Zu Recht hat die Kammer die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gem. § 458 I StPO für unzulässig erklärt.
1. Gem. § 2 Abs. 6 StGB i. V. m. Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK ist für die gegen den Untergebrachten angeordnete Sicherungsverwahrung nicht § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB n. F., sondern die zur Tatzeit geltende Regelung des § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB a. F. anzuwenden.
Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 17.12.2009 die Sicherungsverwahrung - ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als Maßregel der Sicherung und Besserung - als Strafe i. S. v. Art. 7 Abs. 1 MRK qualifiziert. Im Wegfall der Höchstfrist sieht er eine konventionswidrige Rückwirkung, da der zur Tatzeit geltende § 67 d Abs. 1 StGB eine Höchstfrist von 10 Jahren für die erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung vorsah (EGMR, NStZ 2010, 263 ff).
Strafvollstreckungskammer und Senat sind zur Berücksichtigung dieses Urteils des EGMR, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand zu befinden haben (vgl. BVerfG, NJW 2004, 3407 ff.) Dies ist hier auf Grund des gestellten Antrags nach § 458 Abs. 1 StPO der Fall. Bei der erneuten Befassung besteht die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung der anzuwendenden innerstaatlichen Vorschriften den Vorrang zu gewähren, wenn diese nicht eindeutig dem - ranggleichen - Gesetzesrecht des Bundes oder Verfassungsrecht - namentlich den Grundrechten Dritter - widerspricht (BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411).
§ 2 Abs. 6 StGB ermöglicht eine derartige Berücksichtigung des Urteils des EGMR.
Nach § 2 Abs. 6 StGB ist zwar über Maßregeln der Sicherung und Besserung grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Art. 7 Abs. 1 MRK in der nunmehrigen Auslegung durch den EGMR ist aber eine andere gesetzliche Bestimmung i. S. von § 2 Abs. 6 StGB (vgl. BGH, Beschl. v. 12.05.2010 - 4 StR 577/09, ...