Leitsatz (amtlich)
Zur Aufhebung eines Haftbefehls wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen.
Verfahrensgang
LG Gießen (Entscheidung vom 30.06.2005; Aktenzeichen 3 Ns 305 Js 9127/04) |
Gründe
Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Der Angeklagte ist zwar der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Gießen vom 10.06.2005 nunmehr nach Maßgabe des - noch nicht rechtskräftigen - Urteils des Amtsgerichts Gießen vom 30.06.2005 vorgeworfenen Straftaten des unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe, des Diebstahls und des versuchten Computerbetruges dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils. Soweit der Angeklagte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hat, fehlen derzeit Anhaltspunkte für eine ihm günstige Prognose auf das Endergebnis.
Auch besteht gegen den Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
Die nicht rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten bietet unter Berücksichtigung der Anrechnung der bisher erlittenen, anrechenbaren Untersuchungshaft zwar keinen sehr hohen, jedoch einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz. Der Anreiz, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der weiteren Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten, wird zudem noch dadurch verstärkt, daß gegen den Angeklagten ein weiteres Ermittlungsverfahren ( 303 Js 26135/05) anhängig ist. Eine Haftentlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt - eine Entscheidung hierüber stünde erst im Februar 2006 an - erscheint in Ansehung dieses weiteren Ermittlungsverfahrens eher fraglich.
Es bestehen auch keine ausreichenden Bindungen, die geeignet wären, dem Fluchtanreiz entgegenzuwirken. Der Angeklagte hat im Bundesgebiet keinen festen Wohnsitz. Vor seiner Festnahme übernachtete er in einem Pkw und er versuchte, sich der Festnahme durch Flucht zu entziehen. Von seiner Ehefrau lebt der Angeklagte getrennt und ist möglicherweise bereits in O1 geschieden. Dort hielt er sich vor seiner Festnahme auch häufig auf, weil seine Kinder bei der Mutter lebten und er zudem in Deutschland erworbene gebrauchte Fahrzeuge in O1 weiterverkaufte. Gesicherte Erkenntnisse, daß sich seine Kinder zwischenzeitlich dauerhaft in Deutschland aufhalten, liegen nicht vor. Der Umstand, daß ein Herr A sich bereit erklärt hat, den Angeklagten als Untermieter aufzunehmen stellt ebensowenig ein zuverlässiges Fluchthemmnis dar, wie die Tatsache, daß ihm die Firma B, einen Vorstellungstermin angeboten und der Angeklagte möglicherweise eine Arbeitsstelle in Aussicht hat.
Bei dieser Sachlage kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gemäß § 116 StPO erreicht werden.
Gleichwohl sind die angefochtene Haftfortdauerentscheidung und der Haftbefehl nunmehr wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben.
Die grundsätzliche Geltung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen auch nach Erlaß eines erstinstanzlichen Urteils im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemäß § 120 StPO mit der Folge, daß ein erheblicher Verstoß dagegen der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen kann, steht außer Streit (vgl. Meyer-Goßner, 48. Aufl., § 121 Rndr. 8 m.w.N.; OLG Frankfurt am Main, Beschluß vom 11.10.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluß vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluß vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm, Beschluß vom 02.11.1979, Az: 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552-553 und NStZ-RR 2000, 250-251). Dabei ist indessen nicht derselbe strenge Prüfungsmaßstab wie vor Erlaß eines erstinstanzlichen Urteils bei der Prüfung eines "wichtigen Grundes" im Sinne des § 121 StPO anzulegen. Diese Regelung gilt vielmehr ausdrücklicher Normierung nach nur bis zum Erlaß des erstinstanzlichen Urteils. Für den Zeitraum danach verbleibt es bei der Geltung des § 120 StPO und somit der umfassenden Abwägung aller auch sonst für die Verhältnismäßigkeit maßgeblichen Gesichtspunkte. Gegeneinander abzuwägen sind danach auch das Gewicht der Straftat(en) und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluß vom 11.10.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluß vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluß vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm, Beschluß vom 02.11.1979, Az: 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552-553 und NStZ-RR 2000, 250-251). Dabei vergrößert sich mit einer Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung der Straftaten durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Daß das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung des Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckun...