Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Ermessensentscheidung nach § 56 Abs. 2 VgV
Leitsatz (amtlich)
1. Bei Ermessensentscheidungen gemäß § 56 Abs. 2 VgV über das Nachfordern von Unterlagen bedarf es der Abschätzung der konkret zu erwartenden Verzögerung und deren Auswirkungen auf das Verfahren. Es ist auch zu berücksichtigen, ob die Vergabestelle diese Auswirkungen durch eine frühere Nachforderung hätte abmildern oder vermeiden können.
2. Bei der Ermessensentscheidung ist es besonders zu berücksichtigen, wenn bei Ausschluss eines Bewerbers nur noch ein einziger Bewerber übrigbleiben wird.
3. Hilft die Vergabestelle einer Rüge ab, ohne dass dies von anderen Bietern erfolgreich angefochten wird, ist für das weitere Verfahren von einer berechtigten Rüge auszugehen, deren Erheben kein Kriterium bei einer zu Lasten des Rügenden gehenden Ermessensentscheidung sein kann.
Normenkette
VgV § 15 Abs. 5 Nr. 1, § 16 Abs. 9, § 53 Abs. 7, § 56 Abs. 2, § 57 Abs. 1
Verfahrensgang
2. Vergabekammer des Landes Hessen (Beschluss vom 01.07.2021; Aktenzeichen 69d-VK2-16/2021) |
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Landes Hessen vom 1. Juli 2021, Az. 69d-VK2-16/2021, wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antragsgegner verpflichtet wird, das Verfahren in den Zustand vor Ausschluss des Angebots der Antragstellerin zurückzuversetzen und das Angebot der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu prüfen.
Der Antragsgegner hat die Gerichtskosten sowie die zur zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 21.687,75 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragstellerin wendet sich gegen den Ausschluss ihres Angebots von einem vom Hessischen Competence Center für neue Verwaltungssteuerung (Vergabestelle) des beschwerdeführenden Landes und Antragsgegners durchgeführten Vergabeverfahren, an dem neben ihr nur die Beigeladene beteiligt war. Gegenstand des zuletzt als Verhandlungsverfahren ohne Teilnehmerwettbewerb betriebenen Vergabeverfahrens (Vergabenr. ...) ist die "Anmietung einer gasbetriebenen mobilen Brandsimulationsanlage zur Ausbildung von Atemschutzgeräteträgern inklusive Ausbildung für die hessische Landesfeuerwehrschule".
Die Vergabekammer hat den Sachverhalt und die bei ihr gestellten Anträge wie folgt festgestellt:
Der Antragsgegner schrieb mit europaweiter Bekanntmachung vom 29. November 2019 im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union unter der Ausschreibungsnummer ... die Ausbildung von Atemschutzgeräteträgern durch Nutzung einer mobilen Brandsimulationsanlage nach DIN 14097 Teil 1 und 2 - Mai 2018 zunächst im offenen Verfahren aus. Unter Ziffer II.2.4) der Auftragsbekanntmachung hieß es wie folgt:
"Ausbildung von Atemschutzgeräteträgern durch Nutzung einer mobilen Brandsimulationsanlage nach DIN 14097 Teil 1 und 2 -Mai 2018. Das Land Hessen beabsichtigt zur Ausbildung der Atemschutzgeräteträger der Feuerwehren eine mobile gasbetriebene Brandsimulationsanlage anzumieten. Die Anlage soll in den Jahren 2021 und 2022 für jeweils 15 Wochenangemietet und an wechselnden Standorten jeweils für etwa eine Woche zur Verfügung gestellt werden. Die Ausbildung soll in beiden Jahren im Zeitraum von April bis September durchgeführt werden. Die Betriebszeit pro Woche beträgt 54 Stunden." (Blatt 116 der Vergabeakte Bd. I).
Hinsichtlich der Teilnahmebedingungen hatten die Bieter im Hinblick auf die Befähigung zur Berufsausübung eine Eigenerklärung bezüglich des Nichtvorliegens einer Vergabesperre vorzulegen. Bezüglich der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit hatte der Antragsgegner keine Anforderungen formuliert. Als Nachweis für die technische und berufliche Leistungsfähigkeit hatten die Bieter eine Liste mit geeigneten Referenzen der in den letzten drei Jahren erbrachten wesentlichen Leistungen mit folgenden Angaben vorzulegen: Art und Umfang, Erbringungszeitpunkt, Angabe des Wertes, öffentlicher oder privater Empfänger mit den jeweiligen Kontaktdaten, wobei Referenzen dann geeignet sind, wenn diese in Art und Umfang dem hier zu vergebenden Auftrag entsprechen (Blatt 114 der Vergabeakte Bd. I).
Antragstellerin und Beigeladene reichten als einzige Bieter jeweils fristgerecht ein Angebot ein. Der Antragsgegner hob mit Schreiben vom 16. März 2020 (Blatt 318 bis 324 der Vergabeakte Bd. I) das Vergabeverfahren gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 1 VgV in Verbindung mit § 63 Abs. 1 Nr. 3 VgV auf.
Grund hierfür war, dass das Angebot der Beigeladenen erheblich über der Kostenschätzung lag, das Angebot der Antragstellerin der Leistungsbeschreibung nicht entsprach. Gleichzeitig teilte der Antragsgegner den Bietern mit, die ausgeschriebene Leistung solle in einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 1 VgV ...