Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie zur Verkehrsüberwachung. Bußgeldverfahren. Verkehrsordnungswidrigkeit. Fahrverbot. Verstoß. Gleichheitsgrundsatz
Leitsatz (amtlich)
1. Die Richtlinien zur Verkehrsüberwachung sind sog. Verwaltungsinnenrecht und entfalten keine unmittelbare Außenwirkung.
2. Für Verkehrsteilnehmer ist eine Geschwindigkeitsbeschränkung ab Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (Verkehrsschild) wirksam und zu beachten.
3. Erfolgt die Messung unter einem nicht begründeten Verstoß gegen die Richtlinien zur Verkehrsüberwachung - hier in einem zu geringen Abstand zum Verkehrsschild - ist das für den festgestellten Geschwindigkeitsverstoß und damit für das festzusetzende Bußgeld grundsätzlich unbeachtlich.
4. Nur dann, wenn bei Einhaltung der Richtlinie die Indizwirkung des Fahrverbots entfallen würde, kann das Tatgericht bei entsprechender Begründung, aus Gründen der Gleichheit von der Verhängung eines Fahrverbotes absehen (sog. Wegfall des Handlungsunwerts).
Normenkette
StVG § 25
Verfahrensgang
AG Kassel (Entscheidung vom 28.07.2015; Aktenzeichen 385 OWi 9633 Js 13041/15) |
Tenor
Der Betroffenen wird auf ihre Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur ordnungsgemäßen Begründung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 28. Juli 2015 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 28. Juli 2015 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Kassel zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat die Betroffene am 28. Juli 2015 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 160,00 € verurteilt und daneben ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat angeordnet.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr die Betroffene am ...12.2014 um 13.06 Uhr die ... Straße in Stadt 1 in Richtung .... Dort ergab eine in Höhe der Hausnummer ... innerorts durchgeführte Geschwindigkeitsmessung für den von der Betroffenen geführten Pkw einen Wert von 86 km/h, mithin abzüglich der Toleranz eine vorwerfbare Geschwindigkeit von 83 km/h. Das Ortsausgangsschild befindet sich in einem Abstand von ca. 80 m nach dem Beginn des Messbereichs.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Betroffene mit ihrer am 31. Juli 2015 eingegangenen Rechtsbeschwerde. Die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe erfolgte am 08. August 2015. Mit Schriftsatz vom 24.08.2015 wurde die Rechtsbeschwerde begründet; dieser Schriftsatz wurde von Rechtsanwalt unterzeichnet mit dem Zusatz: Rechtsanwalt - nach Diktat urlaubsbedingt kanzleiabwesend -. Aufgrund einer Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 24.09.2015, bei dem Verteidiger eingegangen am 28.09.2015, wer die Rechtsbeschwerdebegründung vom 24.08.2015 unterzeichnet habe, fiel die Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerdebegründung auf und die Betroffene beantragte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 05.10.2015 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde; zugleich legte sie eine von ihrem Verteidiger unterzeichnete Begründung der Rechtsbeschwerde vor.
Die Betroffene rügt die Verletzung sachlichen Rechts und stellt das angefochtene Urteil ausdrücklich insgesamt zur Nachprüfung. Sie meint, das Urteil könne insbesondere im Hinblick auf das verhängte Fahrverbot keinen Bestand haben.
II.
Der Betroffenen war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur ordnungsgemäßen Begründung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 28. Juli 2015 zu gewähren, da die Fristversäumung auf einem der Betroffenen nicht zuzurechnenden Verschulden ihres Verteidigers beruht.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und ebenso begründet worden. Sie hat in der Sache teilweise - zumindest vorläufig - Erfolg.
Auf die erhobene Rüge der Verletzung materiellen Rechts hält allerdings der Schuldspruch des angefochtenen Urteils der rechtlichen Nachprüfung stand. Insoweit ist die Rechtsbeschwerde aus den Gründen der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 16.10.2015 als unbegründet zu verwerfen.
Der Rechtsfolgenausspruch kann dagegen keinen Bestand haben.
Das Amtsgericht ist von einem Regelfall ausgegangen und hat im Hinblick auf die Höhe der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung als Regelfolge der Verkehrsordnungswidrigkeit (§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BKatV i. V. m. Nr. 11.3 BKatV und Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c) des Anhangs) ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Es hat sich dabei auch mit der Frage befasst, ob der Umstand, dass die Messung 80 m vor der Ortstafel den Richtlinien zur Verkehrsüberwachung durch örtliche Ordnungsbehörden und Polizeibehörden des Hessische...