Leitsatz (amtlich)

Für den Fall einer folgenlosen vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung (hier: Unfallflucht) gilt die von der Rechtsprechung entwickelte "Relevanztheorie", und zwar auch für die Kfz-Kaskoversicherung. Danach kann sich die Versicherung auf die eigentlich vorliegende Leistungsfreiheit dann nicht berufen, wenn die Obliegenheitsverletzung nicht generell geeignet war, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden und in subjektiver Hinsicht den Versicherungsnehmer kein erhebliches Verschulden trifft.

 

Normenkette

StGB §§ 35, 142; VVG § 6

 

Verfahrensgang

LG Hanau (Urteil vom 09.01.2006; Aktenzeichen 9 O 1380/05)

 

Tenor

Die Beklagte wird daraufhingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, ihre Berufung gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des LG Hanau vom 9.1.2006 - Az. 9 O 1380/05 - durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, weil die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats durch Urteil nicht erfordert.

Die Beklagte erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 26.6.2006.

 

Gründe

Die Klägerin macht Ansprüche aus einer bei der Beklagten bestehenden Vollkaskoversicherung geltend wegen eines Unfalles vom 22.12.2003 gegen 19.40 Uhr auf der BAB ... von O1 in Richtung O2; wegen des Spurwechsels eines vorausfahrenden Fahrzeuges bremste die Klägerin ihr Fahrzeug ab, dieses kam infolge Eisglätte ins Rutschen und prallte ohne Kollision mit einem anderen Fahrzeug gegen eine Leitplanke, wodurch der Pkw der Klägerin erheblich beschädigt wurde und an der Leitplanke ein Schaden von ca. 500 EUR entstand. Wegen der Fahrbahnglätte ereigneten sich in diesem Autobahnbereich mehrere Verkehrsunfälle. Ca. 10 bis 15 Minuten nach dem Unfall fuhr die Klägerin zur nächsten Ausfahrt und verließ die Autobahn. Am 23.12.2003 um 08.30 Uhr meldete die Klägerin über ihre Mutter der Polizeiautobahnstation O2 den Unfall. Das gegen die Klägerin eingeleitete Strafverfahren nach § 142 StGB wurde später gem. § 153a StPO eingestellt.

Das LG hat nach einer teilweisen Klagerücknahme (300 EUR) der Klägerin die noch verlangten 6.822,16 EUR zugesprochen; es hat ausgeführt, der Anspruch ergebe sich aus § 12 AKB; die Beklagte sei wegen des Verlassens der Unfallstelle durch die Klägerin nicht gem. § 7 V, 4 AKB i.V.m. § 6 Abs. 3 VVG leistungsfrei. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liege nicht vor, da es am subjektiven Tatbestand des § 142 StGB fehle; die Klägerin könne sich nämlich auf den Entschuldigungsgrund des § 35 StGB berufen. Auch wenn die Klägerin die Gefahrenlage möglicherweise durch unangebrachte Geschwindigkeit selbst geschaffen habe, so habe ihr ein längeres Zuwarten an der Unfallstelle über 10 bis 15 Minuten hinaus nicht zugemutet werden können, weil sie wegen der vorliegenden Gefahrensituation (ungesichertes Fahrzeug auf eisglatter Fahrbahn, Dunkelheit) anderenfalls sich und nachfolgende Verkehrsteilnehmer gefährdet hätte. Der Anruf bei der Polizei am nächsten Morgen sei noch "unverzüglich" i.S.v. § 142 Abs. 2 StGB gewesen.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten: Zwar habe sich die Klägerin mit nur geringer Schuld von der Unfallstelle entfernt, gleichwohl liege jedoch eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung vor, die nach dem "Alles-oder-Nichts-Prinzip" zum Verlust des Versicherungsschutzes führen müsse. Unter Berücksichtigung der polizeilichen Vermerke in der beigezogenen Strafakte könne nicht von einem entschuldigenden Notstand i.S.d. § 35 StGB ausgegangen werden. Denn danach seien alle verunfallten Fahrzeugführer an der Unfallstelle geblieben; nur die Klägerin habe die Unfallstelle verlassen und habe nur mit Hilfe des festgehaltenen Kennzeichens sowie durch den Bericht eines Polizeibeamten ermittelt werden können.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Sie verweist darauf, dass sie 10 bis 15 Minuten an der Unfallstelle gewartet habe; sie sei auch nicht etwa losgefahren, als die Polizeifahrzeuge erschienen seien. Das LG habe zu Recht die Voraussetzungen des § 35 StGB bejaht.

Die Berufung der Beklagten hat nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand keine Aussicht auf Erfolg.

Was den Sachverhalt betrifft, so bestreitet die Beklagte nicht, dass die Klägerin nach der Kollision mit der Leitplanke ca. 10 bis 15 Minuten an der Unfallstelle gewartet hat, bevor sie diese verließ. Entgegenstehendes ergibt sich auch nicht aus den polizeilichen Vermerken in der Ermittlungsakte, wonach die Klägerin mit ihrem Fahrzeug eine gewisse Zeitspanne - die die Polizeibeamten nicht näher bestimmen konnten - im Leitplankenbereich gestanden hat; während dieser Zeit wurden nach dem polizeilichen Vermerk Bl. 10 der Strafakte von den Polizeibeamten zunächst zahlreiche andere Unfallbeteiligte "abgefertigt", was offenbar eine nicht unerhebliche Zeit gedauert hat. In dieser Situation verließ die Klägerin, deren Kfz-Zeichen ein Polizeibeamter zuvor bereits notiert hatte, die Unfalls...

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