Leitsatz (amtlich)
Hat ein Automobilhersteller das In-Kraft-Treten der EG-GVO Nr. 1400/2002 zum Anlass genommen, die Vertragshändlerverträge über den Neuwagenvertrieb zu kündigen und einem Teil der bisherigen Vertragshändler neue Verträge anzubieten, die nicht nur der Anpassung an die neue GVO, sondern auch der Umsetzung eines neuen Vertriebssystems, u.a. mit neuen Vorschriften über Margen, Boni und Prämien, über die verbindliche Vorgabe neuer Standards und über neue Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten, dienen, so geht einem Vertragshändler, der das neue Vertragsangebot nicht annimmt, nicht in analoger Anwendung des § 89b Abs. 3 Nr. 1 HGB der Ausgleichsanspruch verloren. Über diesen Ausgleichsanspruch kann durch Grundurteil gem. § 304 ZPO entschieden werden.
Normenkette
HGB § 89b Abs. 3 Nr. 1; ZPO § 304
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.03.2005; Aktenzeichen 3/10 O 134/04) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 3.3.2005 verkündete Grundurteil der 10. Kammer für Handelssachen des LG Frankfurt/M. - 3/10 O 134/04 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 5.000 EUR abwenden, sofern nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in dieser Höhe Sicherheit leistet.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 100.000 EUR.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um einen Kraftfahrzeug-Vertragshändler-Ausgleichsanspruch.
Gemäß Art. 81 (früher 85) Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) sind Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind oder eine Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten. Gemäß Abs. 3 dieses Artikels können die Bestimmungen des Abs. 1 für auf bestimmte Vereinbarungen nicht anwendbar erklärt werden. Durch Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28.6.95 wurde Art. 81 Abs. 3 auf Vereinbarungen für nicht anwendbar erklärt, an denen nur zwei Unternehmen beteiligt waren und in denen sich ein Vertragspartner ggü. dem anderen verpflichtete, zum Zwecke des Weiterkaufs bestimmte Kraftfahrzeuge und Ersatzteile innerhalb des gemeinsamen Marktes nur an ihn oder nur an ihn und eine bestimmte Anzahl von Unternehmen des Vertriebsnetzes zu liefern. Die "Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31.7.2002 über die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor" (EG-Gruppenfreistellungsverordnung - GVO - Nr. 1400/2002) nahm die Freistellung des Kraftfahrzeugsektors von den Wettbewerbsanforderungen des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag in mehreren Punkten zurück. Generell wurde die Zulässigkeit von Wettbewerbsbeschränkungen in "vertikalen Vereinbarungen" (Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen einer Produktions- oder Vertriebskette tätig sind) daran geknüpft, dass der Lieferant keinen höheren Marktanteil als 30 % beim Vertrieb neuer Kraftfahrzeuge oder Ersatzteile bzw. von 40 % beim "quantitativen selektiven Vertrieb" (Begriffsdefinition in Art. 1 (1) g) der Verordnung) für den Verkauf von Neufahrzeugen hat. Des Weiteren wurde die Möglichkeit der Festsetzung von Mindest- oder Festpreisen sowie der Begrenzung des Verkaufsgebietes in vertikalen Vereinbarungen zurückgenommen, der Verkauf vom Originalersatzteilen an unabhängige Werkstätten geöffnet, die Verknüpfung von Verkauf und Kundendienst abgeschafft, ebenso das Verbot oder die Einschränkung der Verwendung qualitativ gleichwertiger Ersatzteile bei Instandsetzung und Wartung von Kraftfahrzeugen. Den Herstellern wurde die Möglichkeit genommen, in einigen Märkten einen selektiven Vertrieb (Begriffsdefinition Art. 1 (1) f) der GVO) und in anderen Märkten andere Vertriebsformen zu praktizieren. Ferner wurden das Verbot des Verkaufs konkurrierender Marken sowie Einschränkungen für Instandsetzungs- oder Wartungsdienstleistungen für Marken konkurrierender Lieferanten untersagt. Die Verordnung trat zum 1.10.2002 in Kraft und gewährte eine Übergangsfrist von einem Jahr.
Die Klägerin war seit 1924 Vertragshändlerin der Beklagten, zuletzt auf Grund eines Händlervertrages von 1996 für Vertrieb und Service von Fahrzeugen und Ersatzteilen (Anlage K 1, Bl. 37-48 d.A.). Bestandteil des Händlervertrages waren gem. Art. 8.1 (Bl. 46 R d.A.) u.a. die "Zusatzbestimmungen zum Händlervertrag für Vertrieb und Service" (Bl. 59-133 d.A.), in deren Art. 6 (Bl. 74-78 d.A.) die Beendigung des Vertrages geregelt ist. Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 20.3.2002 wie ggü. allen A.-Vertragshändlern den Händlervertrag zum 30.9.2003 und erklärte darin ihre Absicht, im Frühjahr 2003 ein neues Vertragsangebot für die Zeit ab 1.10.2003 zu unter...