Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Bemessung des Schmerzensgeldanspruchs einer nach einem ärztlichen Behandlungsfehler an Krebs verstorbenen 70-jährigen Frau

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Abgrenzung von Diagnose- und Befunderhebungsfehlern spielen die Plausibilität und die Eindeutigkeit einzelner Befunde sowie die Häuftigkeit und die Gefährlichkeit der in Betracht zu ziehenden Erkrankungen eine Rolle.

2. Wäre die Prognose einer Patientin bei fachgerechter Behandlung um 10-21 % besser gewesen, ist der haftungsbegründende Ursachenzusammenhang nicht äußerst unwahrscheinlich. Von einem äußerst unwahrscheinlichen Ereignis kann erst ab einer Quote von etwa 5 % und darunter gesprochen werden.

3. Wesentlich für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind der Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod und ihr Alter und ihre familiäre Situation. Die Genugtuungsfunktion, der Grad des Verschuldens des Schädigers und wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien geben dem Fall kein besonderes Gepräge.

4. Die erlittene Lebensbeeinträchtigung ist bei einer 70 Jahre alten Person typischerweise unterdurchschnittlich, da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens wie etwa Jugend, Liebe, Hochzeit, Mutterschaft und beruflichen Erfolg noch erleben konnte.

5. §§ 842, 843 BGB betreffen Ansprüche der verletzten Person selbst. Für die Zeit ab dem Tod des Verletzten können Hinterbliebenen nur eigene Ansprüche aus § 844 Abs. 2 BGB wegen des Verlusts von Unterhaltsansprüchen zustehen.

 

Normenkette

BGB § 253 Abs. 2, § 844 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Urteil vom 08.11.2018; Aktenzeichen 4 O 162/16)

 

Tenor

Auf die Berufung beider Parteien wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 8. November 2018 wie folgt abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 53.091,62 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 18.6.2016 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehenden Berufungen sowohl des Klägers als auch des Beklagten werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten des Rechtsstreits in zweiter Instanz haben der Kläger zu 81 % und der Beklagte zu 19 % zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Nebenintervenienten hat der Kläger zu 81 % und im Übrigen der Nebenintervenient selbst zu tragen.

Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Vollstreckung der jeweiligen Gegenseite durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund der Urteile gegen sie vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenseite vor Beginn der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um das Verkennen eines Weichteiltumors durch den Beklagten und dessen Folgen.

Der Kläger ist einer der Erben seiner 1941 geborenen und am XX.XX.2012 verstorbenen Ehefrau (im Folgenden auch "Patientin"). Seine Miterben haben ihn im Monat1 2016 bevollmächtigt, die gemeinsam ererbten Ansprüche im eigenen Namen prozessual geltend zu machen und Zahlung an sich zu fordern.

Die Patientin wurde im Herbst 2010 von ihrem Hausarzt wegen undefinierbarer Schmerzen im bereits geschwollenen rechten Oberschenkel in die orthopädische Fachpraxis des Beklagten überwiesen. Im Rahmen des ersten Untersuchungstermins fertigte der Beklagte eine Röntgenaufnahme, auf der er weder eine knöcherne Veränderung noch einen Hinweis auf eine Myositis erkannte. Er diagnostizierte eine Prellung des Oberschenkels und ging davon aus, dass es sich bei der Schwellung um ein abgekapseltes Hämatom handelte. Der Patientin wurde eine Kryotherapie empfohlen.

Bei ihrem zweiten Besuch am XX.10.2010 war der Zustand der Patientin unverändert. Der Beklagte ließ durch seinen Mitgesellschafter, den Nebenintervenienten, eine Ultraschalluntersuchung des Oberschenkels vornehmen und hielt die Schwellung anschließend weiter für ein ca. 25 × 3 cm messendes Hämatom. Er legte der Patientin einen Kompressionsverband an und verschrieb eine entzündungshemmende und durchblutungsfördernde Salbe.

Am XX.11.2010 beklagte die Patientin sich gegenüber dem Beklagten über eine Verschlechterung ihres Zustands und über stärkere Schmerzen. Der Beklagte bemerkte im Rahmen einer klinischen Untersuchung "festere Konturen" der Schwellung und verordnete Schmerzmittel.

Zwei Wochen später, am XX.11.2010, hatten sich die Beschwerden der Patientin trotz Einnahme der Schmerzmittel nicht gebessert. Der Beklagte stellte eine Zunahme der Schwellung fest und veranlasste eine MRT-Untersuchung.

Diese ergab am XX.11.2010 eine 14*6*11 cm messende solide tumoröse Raumforderung. Der Beklagte überwies seine Patientin daraufhin am Folgetag in ein Krankenhaus, in dem am XX.12.2010 durch weitere diagnostische Maßnahmen ein undifferenziertes, mäßig pleomorphes Sarkom festgestellt wurde. Der Tumor wurde am XX.12.2010 in Land1 reseziert. Dabei musst...

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