Leitsatz (amtlich)

Bei einem todkranken Strafgefangenen, von dem eine nur noch sehr eingeschränkte Gefahr erneuter Straftaten ausgeht, kann die Achtung der Menschenwürde eine Unterbrechung der Strafvollstreckung auch dann gebieten, wenn wegen der Krankheit von der Vollstreckung selbst eine nahe Lebensgefahr nicht zu besorgen ist und die Krankheit in einem Anstaltskrankenhaus behandelt werden kann.

 

Verfahrensgang

LG Hamburg (Aktenzeichen 613 StVK 319/06)

 

Tenor

  • Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten K vom 12. April 2006 werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 27. März 2006 und der Beschluß des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 13 als Strafvollstreckungskammer, vom 4. April 2006 aufgehoben.

    Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. Februar 2000 (612 KLs 27/99) wird unterbrochen.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

 

Gründe

Die gemäß §§ 311 Abs. 2, 462 Abs. 3 S. 1, 458 Abs. 2, 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO zulässige - insbesondere form- und fristgerecht eingelegte - sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet.

Zu Unrecht haben die Staatsanwaltschaft und die Strafvollstreckungskammer in den angefochtenen Entscheidungen den Antrag des Verurteilten auf Unterbrechung der Vollstreckung der durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. Februar 2000 wegen Vergewaltigung erkannten Freiheitsstrafe von neun Jahren abgelehnt. Aufgrund der weit fortgeschrittenen, nicht mehr heilbaren Hodgkin-Krankheit des Verurteilten, die nach der Einschätzung der ihn behandelnden Fachärzte und des Direktors des Instituts für Gerichtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf, Prof. Dr. med. P, der ihn während des Beschwerdeverfahrens am 28. April 2006 noch einmal eingehend untersucht hat, voraussichtlich in maximal wenigen Monaten zum Tode führen wird, ist jede andere Entscheidung als die Strafunterbrechung auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit wegen Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs.1 GG), zu der auch ein Sterben in Würde gehört, ermessensfehlerhaft, so daß der Senat ausnahmsweise in diesem Einzelfall die Vollstreckungsunterbrechung selbst anordnet, obwohl diese Entscheidung grundsätzlich im Ermessen der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde liegt und von den Gerichten nur darauf überprüft werden darf, ob von dem eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht worden ist (KG in NStZ 1994, 255, 256; Thür. OLG Jena in StV 2004, 84; KK-Fischer, 5. Aufl., § 455 Rn. 17; KMR-Paulus, § 455 Rn. 27). Die an sich sonst gebotene Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung zwecks neuer (fehlerfreier) Ermessensentscheidung kommt hier angesichts der nur noch sehr begrenzten Lebenserwartung des Beschwerdeführers nicht mehr in Betracht.

Allerdings haben die Staatsanwaltschaft und die Strafvollstreckungskammer zu Recht ausgeführt, daß die lebensbedrohliche Erkrankung, die zweifelsfrei als Morbus Hodkin - auch Lymphogranulomatose genannt - diagnostiziert und von Fachärzten der Abteilung für Hämatologie und internistische Onkologie der externen ASKLE-PIOS Klinik Altona behandelt worden ist, nicht von der Strafvollstreckung hervorgerufen worden ist oder negativ beeinflußt wird. Nach der ärztlichen Stellungnahme des Leiters des Zentralkrankenhauses Hamburg, Dr. P, vom 4. April 2006 bedroht ein Aufenthalt des Verurteilten im Zentralkrankenhaus dessen Leben nicht stärker als in jeder anderen Umgebung. Weder ist die wegen der Krankheit bestehende nahe Lebensgefahr "von der Vollstreckung" zu besorgen (§ 455 Abs. 4 Nr. 2 StPO) noch kann die Krankheit außerhalb des Anstaltskrankenhauses bzw. der A Klinik A wirkungsvoller bekämpft werden, so daß auch die Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht erfüllt sind. Gleichwohl kann der Verurteilte entgegen der Auffassung der Vollstreckungsbehörde und des Landgerichts nicht auf den Gnadenweg verwiesen werden. Denn er hat einen Rechtsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung seiner unantastbaren Menschenwürde, die zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Dies hätte bei der Ermessensentscheidung, ob die Strafvollstreckung zu unterbrechen ist, mit berücksichtigt werden müssen.

Der Konflikt zwischen der Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger u.a. durch die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen zu schützen, und dem Inter-esse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, namentlich auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ist durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen, wobei keiner dieser Belange schlechthin den Vorrang vor dem anderen genießt (BVerfG in NStZ-RR 2003, 345). Dabei ist zu beachten, daß sich bei einem Strafgefangenen mit einer nur noch sehr begrenzten Lebenserwartung der Strafzweck der Resozialisierung ohnehin nicht...

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