Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorschrift des § 144 StPO dient lediglich der Kodifizierung der bereits höchstrichterlich anerkannten Praxis zur Bestellung weiterer Pflichtverteidiger; mithin gelten die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Bestimmung der Erforderlichkeit der Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers weiter.

2. Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nach § 144 StPO kommt nur in Betracht, wenn der Prozessstoff so schwierig oder so umfangreich ist, dass er nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann oder wenn eine Hauptverhandlung außergewöhnlich lange währt und deshalb die Wahrscheinlichkeit, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, steigt, wobei die abstrakt-theoretische Möglichkeit einer späteren Verfahrensgefährdung durch das Ausbleiben eines Verteidigers nicht ausreicht, um schon von Anfang an einen weiteren Verteidiger zu bestellen.

 

Verfahrensgang

LG Hamburg (Entscheidung vom 20.12.2019; Aktenzeichen 615 KLs 17/19)

 

Tenor

1. Auf die sofortigen Beschwerden der Generalstaatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 15, vom 20. Dezember 2019 aufgehoben und die Anträge auf Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers werden zurückgewiesen.

2. Die Angeklagten tragen jeweils die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Gründe

I.

Gegen die Angeklagten wird seit dem 8. Januar 2020 die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Hamburg aufgrund der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg vom 7. November 2019 geführt. Nach dieser Anklageschrift liegt den Angeklagten zur Last, durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich mit einem anderen verabredet zu haben, Verbrechen in Form gemeinschaftlicher Brandstiftungen und einer gemeinschaftlichen schweren Brandstiftung zu begehen; vorgeworfen wird daneben dem Angeklagten R., entgegen dem Waffengesetz einen Brandsatz besessen und geführt, den Angeklagten D. und St., vorsätzlich zu dieser Tat Hilfe geleistet zu haben. Die Angeklagten sollen, gemeinsam mit einer unbekannt gebliebenen vierten Person, in unverjährter Zeit vor dem Abend des 7. Juli 2019 vereinbart haben, anlässlich des zweiten Jahrestages der Proteste zum G-20-Gipfel in Hamburg in der Nacht zum 8. Juli 2019 an vier verschiedenen Orten im Hamburger Stadtgebiet im bewussten und gewollten Zusammenwirken koordiniert und nach Möglichkeit gleichzeitig Brandanschläge gegen das Wohnhaus der Hamburger Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, gegen Geschäftsräume eines Maklerbüros und einer privaten Wohnungsgesellschaft sowie gegen ein Dienstfahrzeug dieser Wohnungsgesellschaft mit selbst hergestellten Brandsätzen zu begehen.

Mit Beschluss vom 11. Dezember 2019 hat das Landgericht die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren gegen die Angeklagten eröffnet sowie angeordnet, dass die Hauptverhandlung in der Besetzung der Kammer mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen stattfindet. Zudem hat die stellvertretende Vorsitzende die Hauptverhandlung für 28 Tage, vom 8. Januar 2020 bis zum 9. April 2020, anberaumt sowie ausweislich des dazugehörigen Vermerks mit Blick auf die voraussichtliche Dauer des Verfahrens die Heranziehung eines Ergänzungsschöffen angeordnet.

Alle Angeklagten waren am 8. Juli 2019 vorläufig festgenommen worden. Die Angeklagten R. und St. befinden sich seit dem 9. Juli 2019 aufgrund der jeweils an diesem Tage ergangenen Haftbefehle des Amtsgerichts Hamburg in Untersuchungshaft. Die Angeklagte D., gegen die ebenfalls am 9. Juli 2019 durch das Amtsgericht Hamburg ein Haftbefehl erlassen worden ist, befindet sich seit dem 9. Juli 2019 aufgrund des Aussetzungsbeschlusses von diesem Tage auf freiem Fuß.

Das Amtsgericht Hamburg hatte mit den Beschlüssen vom 9. Juli 2019 dem Angeklagten R. die Rechtsanwältin F. und dem Angeklagten St. den Rechtsanwalt O. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Am 26. August 2019 hatte es der Angeklagten D. den Rechtsanwalt K. als Pflichtverteidiger bestellt. Im Oktober und im November 2019 haben die Rechtsanwältinnen De., Ed. und Pi. dem Landgericht angezeigt, die Angeklagten R., D. bzw. St. zu vertreten. Darüber hinaus haben alle sechs Verteidiger dem Landgericht mitgeteilt, an welchen Tagen sie für die Hauptverhandlung zur Verfügung stehen.

Mit den jeweiligen Schriftsätzen vom 29. November 2019 haben die Rechtsanwältinnen De., Ed. und Pi. jeweils beantragt, den Angeklagten R., D. bzw. St. als weitere Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Dem hat das Landgericht durch Vorsitzendenbeschluss vom 20. Dezember 2019 entsprochen.

Gegen diesen Beschluss hat die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg mit ihrem am 27. Dezember 2019 bei dem Landgericht eingegangenen Schriftsatz jeden Angeklagten betreffend sofortige Beschwerde eingelegt und beantragt, den angegriffenen Beschluss aufzuheben und die Anträge auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers zurückzuweisen.

II.

Die nach § 144 Ab...

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