Verfahrensgang

AG Hamburg-Sankt-Georg (Entscheidung vom 26.02.2008; Aktenzeichen 1 Ss 107/08)

 

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-St.Georg, Abteilung 944, vom 26. Februar 2008 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hamburg-St.Georg zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hamburg-St.Georg hat mit Urteil vom 26. Februar 2008 gegen den Angeklagten wegen Erschleichens von Leistungen in vier Fällen auf eine Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen à Euro 8,-- (Einzelgeldstrafen jeweils 30 Tagessätze à Euro 8,--) erkannt. Dagegen hat der Angeklagte am 28. Februar 2008 Rechtsmittel eingelegt und dieses - nach am 5. März 2008 erfolgter Urteilszustellung - am 3. April 2008 als Revision spezifiziert, die zugleich durch Verteidigerschriftsatz mit dem Antrag auf Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache sowie mit Verfahrensrügen und der - ausgeführten - Sachrüge begründet worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat auf Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO angetragen.

II.

Die Revision des Angeklagten ist zulässig (§§ 335, 341, 344, 345 StPO) und hat mit einer Verfahrensrüge - vorläufigen - Erfolg.

1.

Es liegt der absolute Revisionsgrund einer in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, durchgeführten Hauptverhandlung vor (§§ 338 Nr. 5. 140 Abs. 2 StPO).

a)

Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Weise (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) angebracht. Zwar referiert die Revisionsbegründung zunächst unbeachtlichen Protokollinhalt ("Das diesbezügliche Hauptverhandlungsprotokoll nebst Anlage gibt folgenden Inhalt her: ..."), schiebt jedoch im weiteren Verlauf die Behauptung wirklichen Verhandlungsgeschehens nach ("Der Angeklagte war also ohne anwaltliche Verteidigung"; gemeint: [auch] in der Hauptverhandlung).

Hingegen ist der Vortrag weiterer Verfahrenstatsachen im Verteidigerschriftsatz vom 3. Juni 2008 unzulässig, weil die durch die (wirksame) Urteilszustellung vom 5. März 2008 in Lauf gesetzte einmonatige Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 StPO) abgelaufen war.

b)

Die Verfahrensrüge ist begründet. Die Hauptverhandlung hat, wie durch das Protokoll bewiesen ist, in Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden, obwohl wegen der Schwere der verfahrensgegenständlichen Taten ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag (§ 140 Abs. 2 StPO). Demgegenüber ist es entgegen dem Revisionsvorbringen ohne Belang, ob die gerichtliche Bestellung eines Verteidigers unterblieben ist.

aa)

Die Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO bestimmt sich vorrangig nach der zu erwartenden Entscheidung über die Rechtsfolgen der angeklagten Taten (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 140 Rein. 23 m.w.N.). Zu berücksichtigen sind auch schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte anderweitig infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat; dazu zählt ein nach § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB wegen der verfahrensgegenständlichen Anlasstat drohender Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdn. 25 m.w.N.). Demnach bestimmt sich die Tatschwere nach der Kumulation der in der verfahrensgegenständlichen Sache zu erwartenden Strafe und der nach zu erwartendem Aussetzungswiderruf zu vollstreckenden Strafe.

Bei der Bewertung, ob ein Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO vorliegt, ist dem Vorsitzenden des Tatgerichts ein Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum eingeräumt (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdn. 22 m.w.N.). Bei dessen Ausfüllung können auch Gesichtspunkte der Selbstverteidigungsfähigkeit des Angeklagten berücksichtigt werden. Schon deshalb verbietet sich die Bestimmung fester Grenzen dafür, ab weicher (kumulierten) Höhe der zu erwartenden Strafe(n) eine Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung gebietet (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdn. 23, 24 m.w.N.). Jedenfalls bei einer Straferwartung von insgesamt mehr als eineinhalb Jahren ist allemal ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben.

Die der Bewertung zu Grunde zu legenden Tatsachen ermittelt grundsätzlich das Revisionsgericht freibeweislich. Eine Ausnahme kann bei doppelrelevanten Tatsachen, die der Tatrichter zum Schuld- oder Rechtsfolgenspruch mit den grundsätzlich überlegenen Mitteln des Strengbeweises festgestellt hat und die auch für die Verfahrensrüge bedeutsam sind, gegeben sein; diese Ausnahme greift jedoch jedenfalls dann nicht, wenn die Überlegenheit des Strengbeweises in casu ersichtlich nicht genutzt worden ist (vgl. zu allem Senat in VM 2008, 36, 37; Meyer-Goßner, a.a.O., § 337 Rdn. 6, 11, 13 f m.w.N.).

bb)

Nach diesen Maßstäben hat die Strafrichterin ihren Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum überschritten. Die Schwere der Taten hat die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung geboten.

aaa)

Dem Angeklagten liegt zur Last, am 29. Juni sowie 1., 13. und 14. November 2007 jeweils eine Leistungserschleichung (§ 265a StGB) be...

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