Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein Patient in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie eingewiesen, um davor bewahrt zu werden, sich selbst das Leben zu nehmen, so trifft den Träger des Krankenhauses die Pflicht, alle Gefahren von dem Patienten abzuwehren, die ihm wegen seiner Krankheit durch sich selbst drohen.

2. Zu dieser Pflicht des Krankenhausträgers gehört es, durch geeignete, ihm zumutbare bauliche Maßnahmen dafür zu sorgen, dass die Stationstüren verschließbar sind und die Fenster auch unter Einsatz von Körperkraft nicht so geöffnet werden können, dass ein Patient hinaussteigen oder herausspringen kann.

 

Normenkette

BGB §§ 839, 847 a.F.; GG Art. 34

 

Verfahrensgang

LG Hamburg (Aktenzeichen 303 O 224/00)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des LG Hamburg, Zivilkammer 3, vom 1.12.2000 wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen den Urteilsspruch unter I.2., 3. und 4. richtet.

Der vom Kläger in der Berufungsinstanz auf 58.147,81 DM bezifferte Anspruch auf Ersatz materiellen Schadens ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung i.H.v.110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet i.H.v.110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht von dem Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen der Folgen nach einem Sturz aus dem Fenster eines Behandlungszimmers im zweiten Stockwerk der Psychiatrischen Abteilung des AK H., dessen Träger der Beklagte ist.

Der damals 20 Jahre alte Kläger wurde am 13.8.1997 auf Veranlassung seines Vaters nach §§ 9, 12 des Hamburgischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (HmbPsychKG) vom 27.11.1995 (HmbGVBl. S. 235) einstweilen ohne gerichtliche Entscheidung nach Einschaltung einer Amtsärztin in die Psychiatrie des AK H. untergebracht. Die Ärztin hatte nach einem Gespräch mit dem Kläger und dessen Vater den Verdacht auf eine juvenile Psychose mit jahrelangem Prodromalstadium geäußert und die Gefahr einer akut durchbrechenden Suizidalität festgestellt. Der Kläger wurde in einem Einzelzimmer mit der Nummer 284 im 2. Stockwerk der Station 162b der Psychiatrie des Krankenhauses untergebracht. Weil der Kläger sich dieser Unterbringung durch eine Flucht hatte entziehen wollen, war er dem Krankenhaus in den Mittagsstunden in Handschellen zugeführt worden. Unter diesen Umständen litt der Kläger nach den Feststellungen der Ärzte des AK H. Der Leitende Arzt Dr. U. sah deshalb nach einem mit dem Kläger in der Zeit zwischen 19.00 und 20.00 Uhr geführten Gespräch davon ab, eine medikamentöse Zwangsbehandlung oder eine Überwachung durch eine Sitzwache anzuordnen.

Auch der Stationsarzt Dr. F. erachtete eine Zwangsmedikation nicht für angezeigt. Er erwog zwar die Fixierung des Patienten oder das Anordnen einer Sitzwache, hielt aber beides nicht für angezeigt. Nach seiner Dokumentation führte er mit dem Kläger um 17.00 Uhr ein Kontrollgespräch und vermerkte dazu, dass der Patient deutlich entspannter gewirkt habe. Er habe sich von ihm per Handschlag mit den Worten verabschiedet: „Wir sehen uns morgen”.

Um etwa 21.35 Uhr nahm das Pflegepersonal nach Antritt des Dienstes beim abendlichen Rundgang auch Kontakt zum Kläger auf. Dieser öffnete die Tür seines Zimmers, begab sich aber sogleich wieder in das Bad. Auf Fragen des Personals äußerte er, er habe sich nicht umbringen wollen, sondern nur über die Möglichkeit nachgedacht. Nur wenig später, um etwa 21.50 Uhr, wurde das Pflegepersonal durch einen Anruf davon unterrichtet, dass der Kläger schwer verletzt auf dem Betonboden vor dem Haus lag. Er hatte das in seinem Zimmer vorhandene Fenster gewaltsam geöffnet und war aus dem Fenster auf den Betonboden vor dem Haus gestürzt.

Polizeibeamte stellten fest, dass das verschließbare und bei gewöhnlicher Handhabung lediglich in Kippstellung zu bringende Fenster des Zimmers 284 offen stand. Es war im rechten oberen Bereich aus der Halterung gerissen. Vor dem Fenster stand ein Stuhl. Die Polizei hat sowohl ein Hinausstürzen des Klägers in der Absicht, sich umzubringen, für möglich gehalten als auch den Versuch, sich der weiteren Behandlung durch eine Flucht über das Vordach zu entziehen.

Der Kläger wurde mit schweren Verletzungen (Schädelhirntrauma mit Schädelfraktur rechts occipital bis zum Felsenbein, Subarachnoidalblutung, Hirnödem) in der Chirurgie des AK H. aufgenommen und dort auch wegen Verletzungen der Lunge, der Wirbelsäule und des rechten Armes medizinisch versorgt. Nach einer stationären intensiv-medizinischen Behandlung wurde der Kläger am 24.9.1997 in das Zentrum für Schwerst-Schädel-Hirnverletzte des AK E. verlegt (vgl. Bericht des AK H. vom 24.9.1997, Anl. K 7). Vom 17.3.1998 bis zum 15.10.1999 befand sich der Kläger zu einer stationären Behandlung im Neurologischen Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendlic...

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