Entscheidungsstichwort (Thema)
Missbrauch des Sorgerechts durch Gefährdung des Kindeswohls bei Ablehnung des Schulbesuchs und Unterrichtung der Kinder zu Hause
Leitsatz (amtlich)
1. Die Eltern missbrauchen das Sorgerecht und gefährden das Kindeswohl, wenn sie ihre schulpflichtigen Kinder nicht zur Schule schicken.
2. Ein Sorgerechtsmissbrauch ist auch gegeben, wenn die Eltern aus religiösen Gründen den Schulbesuch ablehnen und stattdessen ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen. Dem Elternrecht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder kommt ggü. dem Erziehungsauftrag des Staates nämlich kein absoluter Vorrang zu.
3. Lehnen Eltern den Schulbesuch grundsätzlich ab, und kommen daher mildere Mittel zur Durchsetzung der Schulpflicht nicht in Betracht, kann die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts gerechtfertigt sein. Die Möglichkeit öffentlich-rechtlichen Schulzwangs steht jedenfalls in einem solchen Fall familiengerichtlichen Eingriffen nicht entgegen.
4. Verhindern die Eltern schon längere Zeit den Schulbesuch, kann es geboten sein, den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Wege einer einstweiligen Anordnung zu entziehen, um die Kinder vor weiterem Schaden zu bewahren, der durch ein weiteres Fernbleiben von der Schule während der Dauer des Hauptsacheverfahrens entstehen würde. Das gilt auch dann, wenn die Eltern behaupten, dass den Kindern der schulische Wissensstoff durch Heimunterricht vermittelt wird, denn durch den Besuch der Schule erlernen die Kinder auch soziale Kompetenz im Umgang mit anderen. Auch in diesem Bereich führt die Schulversäumnis zu schwerwiegenden Defiziten, die später nicht oder nur schwer aufgeholt werden können.
Normenkette
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1; BGB § 1666 Abs. 1, § 1666a; ZPO § 621g
Tenor
Die namens der betroffenen Kinder durch die Rechtsanwälte H eingelegte sofortige Beschwerde vom 12.8.2005 gegen den Beschluss des AG - FamG - P vom 10.8.2005 wird als unzulässig verworfen.
Die sofortige Beschwerde der Beteiligten zu 1) und 2) vom 17.8.2005 gegen den Beschluss des AG - FamG - P vom 10.8.2005 wird als unzulässig verworfen, soweit mit ihr die Verfahrenspflegerbestellung unmittelbar angegriffen wird.
Im Übrigen wird ihre sofortige Beschwerde zurückgewiesen.
Die Beteiligten zu 1) und 2) tragen die gerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je ½.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Beschwerdewert beträgt 1.500 EUR.
Gründe
I. Die Beteiligten zu 1) und 2) sind die Eltern der betroffenen grundschulpflichtigen Kinder. D hat die ersten drei Schuljahre einer öffentlichen Grundschule besucht. Seit dem Schuljahr 2004/2005 - 4. Schulklasse - nimmt er am Unterricht nicht mehr teil. M hätte im Schuljahr 2004/2005 eingeschult werden sollen. Die Einschulung ist nicht erfolgt. Es leben noch weitere Geschwister im Haushalt der Eltern. Die älteren drei Kinder besuchen weiter öffentliche Schulen, nämlich die Hauptschule und die Realschule.
Die Beteiligten zu 1) und 2) sind gläubige Baptisten. Mit dem Schreiben der Fernschule vom 3.9.2004 haben die Beteiligten zu 1) und 2) der Grundschule mitgeteilt, dass die beiden Kinder ab sofort nicht mehr am Unterricht teilnehmen und über die deutsche Fernschule in W zu Hause unterrichtet würden. Das Verhalten wurde im wesentlichen damit erklärt, dass der Besuch der staatlichen Schule aus religiösen Gründen abgelehnt werde. Ausweislich des Berichtes des Jugendamtes der Stadt P vom 7.7.2005 gab der Beteiligte zu 1) ggü. dem zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes an, dass für den Fall einer positiven Entscheidung des Gerichts auch die älteren Kinder die weiterführenden Schulen verlassen würden.
Bei der deutschen Fernschule in W handelt es sich weder um eine öffentliche Schule, noch um eine staatlich anerkannte oder vorläufig erlaubte Ersatzschule i.S.d. § 6 Abs. 5 Schulpflichtgesetzes NRW a.F., §§ 34 Abs. 3, 101 SchulG NRW. Trotz Aufforderungen und mehrfacher Hinweise durch die Schulleitung und das Schulamt der Schulpflicht nachzukommen, schickten die Beteiligten zu 1) und 2) die betroffenen Kinder nicht wieder zur Schule. Auch das gegen die Eltern angestrengte Bußgeldverfahren und die sich anschließende rechtskräftige Verurteilung der Eltern - Urteil des AG P vom 9.5.2005 - zur Zahlung eines Bußgeldes von je 250 EUR führte nicht dazu, dass die Beteiligten zu 1) und 2) die betroffenen Kinder wieder zur Schule brachten. Die Einschaltung des Integrationsbeauftragten der Landesregierung Anfang 2005 blieb ebenso erfolglos. Die zwangsweise Zuführung der betroffenen Kinder im Wege des Verwaltungszwanges ist bisher nicht durchgesetzt worden. Die Beitreibung festgesetzter Verwaltungszwangsgelder scheiterte bislang an einem Verfahrensfehler bei der Androhung der Zwangsgelder, da hier das Schulamt und nicht die Schulleitung tätig geworden war. Die Zwangsgeldandrohungen und -festsetzungen sind nach Widerspruch der Beteiligten zu 1) und 2) und nach einer Entscheidung des VG A in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren in anderer Sache v...