Leitsatz (amtlich)

Liegt bei einem Angeklagten ein (unbehandeltes) ADHS vor, so ist das Tatgericht jedenfalls bei Vorliegen weiterer Umstände, wie einem festgestellten "aufbrausendem Wesen" oder "leichtem Kontrollverlust" etc. dazu gedrängt, im Urteil die Schuldfähigkeit des Verurteilten zu erörtern.

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Entscheidung vom 23.10.2006; Aktenzeichen 14 Ns 53 Js 2727/05 - 2/07)

 

Tenor

  • 1.

    Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben

    • a)

      im Schuld- und Einzelstrafenausspruch soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,

    • b)

      im Gesamtstrafenausspruch.

  • 2.

    Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

1.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 23.10.2006 wegen gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Betruges in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß beschränkt. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht Bielefeld die so beschränkte Berufung verworfen.

Gegen das Urteil des Landgerichts hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt und begründet. Er hat beantragt, "das angefochtene Urteil im Strafausspruch - soweit es die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und den Gesamtstrafenausspruch betrifft - aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückzuverweisen". Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

2.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur allein hier relevanten Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung war der Angeklagte im Oktober 2005 als Türsteher tätig. Der Geschädigte ist Vater der Tochter der seinerzeitigen Lebensgefährtin des Angeklagten. Am 08.10.2005 wurde er durch den Geschädigten telefonisch massiv bedroht, weil es zwischen ihm und dem Angeklagten zu Auseinandersetzungen im Hinblick auf den Umgang des Angeklagten mit seiner Tochter gekommen war. Der Angeklagte forderte den Geschädigten daraufhin auf, zu der Gaststätte zu kommen, bei der er als Türsteher tätig war. Gegen 0.30 Uhr am 09.10.2005 traf er dort ein und ging auf den Angeklagten, der gerade seine Türstehertätigkeit ausübte, zu, ohne ihn anzugreifen. Der Angeklagte schubste ihn sofort weg und schlug und trat ihn mit dem beschuhten Fuß. Der Geschädigte hatte Schmerzen und erlitt Prellungen und Blutergüsse.

II.

Die Revision hat auf die (allein erhobene) Sachrüge hin Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

Das Urteil des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfung nicht Stand, weil die Versagung einer Strafmilderung gem. §§ 21, 49 StGB bzw. die Verneinung eines Schuldausschlusses nach § 20 StGB Rechtsfehler aufweist und das Landgericht bei der abgeurteilten Körperverletzungstat zu Unrecht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch ausgeht.

1.

Der Senat kann das angefochtene landgerichtliche Urteil und das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Bielefeld auch bezüglich des Schuldspruches der gefährlichen Körperverletzung überprüfen. Er ist durch die dargestellte Beschränkung von Berufung und Revision nicht daran gehindert. Die Bindung des Revisionsgerichts an eine Revisionsbeschränkung entfällt, wenn Schuldspruch und Strafzumessung so miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Teil mit zu berühren (BGH NJW 1996, 2663, 2664 m.w.N.). Auf eine zulässige Revision prüft das Revisionsgericht darüberhinaus von Amts wegen, ob das Berufungsgericht zu Recht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung ausgegangen ist (BayObLG NZV 2001, 353; OLG Köln NStZ 1984, 379, 380). Grundsätzlich ist die Entscheidung, ob der der Täter erheblich vermindert schuldfähig war von der Entscheidung über seine Schuldunfähigkeit trennbar. Andreres gilt aber, wenn eine neue Entscheidung über die Schuldfrage aufgrund der für die Strafzumessung festgestellten Tatsachen zu einer Verneinung der Schuld führen kann (OLG Köln NStZ 1984, 379, 380).

Die Rechtsmittelbeschränkungen sind hier bezüglich der abgeurteilten gefährlichen Körperverletzung unwirksam, da die Fragen einer möglichen Strafmilderung wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) oder gar Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) aufgrund des bei dem Angeklagten bestehenden ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) nicht getrennt voneinander geprüft werden können. Hinsichtlich des Schuld- und Einzelstrafausspruchs für die Betrugstaten ist die Rechtsmittelbeschränkung hingegen nach den dargelegten Grundsätzen wirksam. Der Senat kann bezüglich der Betrugstaten ausschließen, dass da...

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