Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftbefehl. Haftgrund. Fluchtgefahr. Lebensverhältnisse. Wohnsitz. Obdachlosenunterkunft. Meldeauflage
Leitsatz (amtlich)
1. Ist bereits eine, wenn auch noch nicht rechtskräftige Verurteilung erfolgt, so ist für die Feststellung des dringenden Tatverdachts vor allem auf das Urteil zurückzugreifen.
2. Die Lebensverhältnisse eines Beschuldigten, der spätestens seit Bekanntwerden der Tatvorwürfe über keine familiären Bindungen mehr verfügt, dessen Ehefrau und Kinder sich von ihm getrennt haben, der der ehelichen Wohnung verwiesen worden ist und der arbeitslos und erkrankt ist, weisen keine Umstände auf, die die Fluchtgefahr ausräumen.
3. Das Fehlen stabiler Bindungen und handlungsleitender Motive, sich den Konsequenzen seiner Taten zu stellen, kann auch in einem Suizidversuch zum Ausdruck kommen.
4. Unerheblich ist, ob dem Beschuldigten ein Fluchtversuch ins Ausland letztlich gelingen oder ob er dort für längere Zeit Fuß fassen würde. Denn der Beschuldigte entzieht sich bereits dann im Sinne einer Fluchtgefahr dem Verfahren, wenn der Fortgang des Verfahrens auch nur vorübergehend durch die Aufhebung seiner Bereitschaft, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, verhindert wird.
5. Weniger einschneidende Maßnahmen als die Untersuchungshaft begründen eine hinreichende Erwartung, dass der Zweck der Untersuchungshaft durch sie erreicht werden kann, nur dann, wenn der Haftgrund infolge der verhängten Sicherheitsauflagen entfällt oder zumindest in einem so erheblichen Maße abgeschwächt wird, dass lediglich ein Restrisiko verbleibt.
6. Die Weisung, Wohnsitz in einer Obdachenlosenunterkunft zu nehmen, hindert nicht an einer Flucht. Auch wenn der Beschuldigte dort gewisse sozialarbeiterische Ansprache erhält, ist mit dem Entstehen von fluchthindernden sozialen Bindungen zu Mitarbeitern oder Mitbewohnern nicht zu rechnen. Die Wohnungnahme in einer Obdachloseneinrichtung gewährt auch keine Lebensperspektive, die dazu aktiviert und motiviert, sich dem weiteren Verfahren bis zum absehbaren Antritt einer längeren Haftstrafe zu stellen.
7. Das Verbot, den Landkreis nicht zu verlassen, und die Pflicht, sich dreimal wöchentlich bei der Polizei zu melden, vermögen den Beschuldigten nicht daran zu hindern, sich dem Verfahren zu entziehen. Die Meldepflicht ermöglicht als solche keine Kontrolle der Aufenthaltsbeschränkung, die eine Flucht verhindern könnte. Bei fehlender Bereitschaft, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, kann sich der Beschuldigte trotz der getroffenen Anweisungen dem Zugriff der Behörden bereits dadurch entziehen, dass er seinen Aufenthaltsort ändert, ohne die Behörden zu informieren.
Normenkette
StPO § 112 Abs. 1, 2 Nr. 2, § 116
Verfahrensgang
AG Bielefeld (Entscheidung vom 14.06.2019) |
LG Paderborn (Entscheidung vom 19.12.2019) |
LG Bielefeld (Entscheidung vom 25.07.2019; Aktenzeichen 1 KLs 14/19) |
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Paderborn vom 19. Dezember 2019 wird aufgehoben, soweit darin der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden ist.
- Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls wird abgelehnt.
- Der Angeklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Am 14. Juni 2019 erließ das Amtsgericht Bielefeld Haftbefehl gegen den Verurteilten wegen des dringenden Verdachts, im Zeitraum von 2008 bis 2015 in 42 Fällen Sexualstraftaten zum Nachteil seiner beiden minderjährigen Töchter verübt zu haben. Es begründete den Haftbefehl mit Flucht- und Wiederholungsgefahr. Mit Beschluss vom 23. September 2019 ließ die 1. große Strafkammer des Landgerichts Bielefeld die am 25. Juli 2019 erhobene Anklage zu und ordnete die Haftfortdauer an, wobei sie diese auf den fortbestehenden Haftgrund der Fluchtgefahr stützte. An vier Terminen vom 19. November bis zum 16. Dezember fand die Hauptverhandlung vor der Strafkammer statt.
Am 16. Dezember 2019 verurteilte das Landgericht den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in sieben Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes, wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes in zwölf Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit einem sexuellen Übergriff und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in dreißig Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren. Ebenfalls am 16. Dezember 2019 ordnete das Landgericht zunächst an, dass der Haftbefehl aufrechterhalten und in Vollzug bleibt.
Auf Antrag des Angeklagten mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. Dezember 2019 beschloss es sodann erneut die Aufrechterhaltung des Haftbefehls, setzte diesen jedoch außer Vollzug. Zugleich wies es den Angeklagten an, in der Einrichtung "I" in O Wohnsitz zu nehmen, den Landkreis O/Weser nicht ohne Erlaubnis des Gerichts zu verlass...