Entscheidungsstichwort (Thema)
Urteilsabsetzungsfrist. nicht voraussehbarer unabwendbarer Umstand. Schwangerschaftskomplikationen. Mutterschutzfristen. individuelles Beschäftigungsverbot. Elternzeit
Leitsatz (amtlich)
1. Das individuelle Beschäftigungsverbot und die Mutterschutzfristen stehen in ihren Auswirkungen der Dienstunfähigkeit infolge Erkrankung eines Richters, für die die Anwendung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO in Rechtsprechung und Literatur anerkannt ist, gleich.
2. Eine Dienstpflicht der Richterin, während der bewilligten Elternzeit das schriftliche Urteil zu fertigen, besteht nicht; die im Rahmen einer überobligatorischen Leistung der Richterin gefertigten Urteilsgründe können daher nicht unter Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO zu den Akten gebracht worden sein.
3. Eine Höchstfrist für die nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO gerechtfertigte Fristüberschreitung lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen; eine an dem Gesetzeszweck der §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO orientierte Auslegung zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, nach Ablauf einer mit etwa einem Jahr zu bemessenden Fristüberschreitung sei das Urteil auf die Verfahrensrüge hin zwingend aufzuheben.
Normenkette
StPO § 275 Abs. 1; MuSchG §§ 3, 6; FrUrlVNRW § 3
Verfahrensgang
AG Bielefeld (Aktenzeichen 39 Ds 2500/14) |
Tenor
Die Revision wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Angeklagte (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Gründe
I.
Das Amtsgericht Bielefeld hat den Angeklagten am 24. März 2015 wegen gemeinschaftlichen Betruges in zwei Fällen, Betruges in zwei Fällen und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Ferner hat das Amtsgericht eine Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von sechs Monaten verhängt.
Das nach eintägiger Hauptverhandlung verkündete Urteil ist am 2. Oktober 2015 in schriftlicher Form mit Gründen und Unterschrift zu den Akten gelangt. Ebenfalls vom 2. Oktober 2015 datiert ein Vermerk der entscheidenden Richterin, der wie folgt lautet:
"Am 20.04.2015 musste ich stationär ins Krankenhaus. Im direkten Anschluss erhielt ich ein individuelles Beschäftigungsverbot. Hiernach folgte die Mutterschutzzeit, die bis zum 11.09.2015 andauerte. Insofern war mir eine frühere Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe nicht möglich".
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte zunächst fristgerecht Berufung eingelegt und diese nach Zustellung des schriftlichen Urteils auf die Revision umgestellt, mit der er eine Verfahrensrüge gem. §§ 338 Nr. 7, 275 Abs. 1 Sätze 2 und 4 StPO erhebt.
Die erkennende Richterin hat mit Datum vom 14. Dezember 2015 einen weiteren Vermerk verfasst, der wie folgt lautet:
"Das Urteil wurde von mir am 24.3.2015 in Anwesenheit des Angeklagten verkündet. Damit begann die 5-Wochen-Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO für die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe. Aufgrund der Organisation meines Dezernates, Vertretung und anderer dringender Geschäfte (u.a. bis zu 3 Hauptverhandlungstage pro Woche) war in diesem Fall beabsichtigt, die Urteilsgründe erst gegen Ende der 5-Wochen-Frist abzusetzen. Hierzu kam es jedoch leider nicht, da ich nach dem Dienst am Abend des 20.04.2015 zu einem ambulanten planmäßigen Kontroll-Arzttermin im Rahmen meiner Schwangerschaft musste. Völlig unerwartet wurde mir bei diesem Termin eröffnet, dass ich mich aufgrund plötzlich aufgetretener Komplikationen sofort stationär in die Frauenklinik zu begeben habe, wohin ich mit einem Rettungswagen gefahren wurde. Ich wurde gegen 22:30 Uhr stationär aufgenommen und verblieb dort bis zum Ende der Woche. Der Chefarzt der Klinik und auch meine Gynäkologin verboten mir ab sofort sämtliche berufliche Tätigkeit und ordneten absolute Schonung an. Mir wurde ein individuelles Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG bis zur Geburt des Kindes erteilt. Daran an schloss sich die Mutterschutzfrist, die am 11.09.2015 endete. In dieser Zeit war mir die Absetzung der Urteilsgründe aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Ab dem 12.09.2015 befand ich mich in Elternzeit und musste mich primär um meinen Sohn kümmern, welcher zu dieser Zeit wegen starker Koliken neben der ohnehin umfangreichen Zeit für die Betreuung eines Babys besonders viel Zuwendung benötigte. Im Rahmen der mir in dieser Zeit zustehenden Möglichkeiten habe ich mich unverzüglich um die Abfassung der recht umfangreichen Urteilsgründe in dieser Sache sowie in den 15 anderen Verfahren gekümmert, in denen die schriftlichen Urteilsgründe wegen meines völlig unerwarteten plötzlichen Arbeitsabbruches ebenfalls noch ausstanden. So ist es gelungen, die Urteilsgründe innerhalb von 3 Wochen nach Ablauf der Mutterschutzfrist abzusetzen und das unterschriebene Urteil am 02.10.2015 meiner Geschäftsstelle zukommen zu lassen. Ein früheres Abfasse...