Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuständigkeit. Landgericht. Schöffengericht. Umfang des Verfahrens. Eröffnungsbeschluss

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Zuständigkeit des Landgerichts gemäß § 74 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr.3 GVG wegen eines besonderen Umfangs des Falles ist zu verneinen, wenn dieser nicht über den Anwendungsbereich des § 29 Abs. 2 GVG rechtfertigenden Umfang hinausgeht. Die personelle Überlegenheit der Kammer am Landgericht gegenüber dem Schöffengericht ist aufgehoben, wenn dieses nach § 29 Abs. 2 S.1 GVG mit zwei Berufsrichtern verhandelt und die Kammer nach § 76 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 GVG ebenfalls mit nur zwei Berufsrichtern entscheidet.

2. Räumliche Schwierigkeiten können nicht zuständigkeitsbestimmend sein.

3. Dem mit der Anzahl der Angeklagten ggf. verbundenen Mehraufwand kann durch Hinzuziehung eines weiteren Richters beim Amtsgericht Rechnung getragen werden.

4. Vor dem Hintergrund des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) vermag ein großes Medien- und Öffentlichkeitsinteresse die besondere Bedeutung einer Strafsache allenfalls ausnahmsweise bei Konstellationen eines überragenden oder bundesweiten Interesses zu stützen.

 

Normenkette

GVG § 24 Abs. 1 Nrn. 2-3, § 74 Abs. 1 S. 2, § 29; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Münster (Aktenzeichen 2 KLs 9/19)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der den Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse (§ 473 Abs. 1 und Abs. 2 StPO).

 

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Münster hat unter dem 10. Mai 2019 Anklage gegen die Angeklagten wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung erhoben und die Eröffnung des Hauptverfahrens vor der großen Strafkammer des Landgerichts Münster beantragt.

Das Landgericht Münster - 2. große Strafkammer - hat mit dem angefochtenen Beschluss die Anklage mit der abweichenden rechtlichen Würdigung zur Hauptverhandlung zugelassen, dass hinsichtlich des Angeklagten B zusätzlich auch eine Verurteilung wegen einer Nötigung (§ 240 StGB) in Betracht kommt, und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Ahaus - Schöffengericht - eröffnet. Zudem hat das Landgericht aufgrund des Umfangs der Sache die Hinzuziehung eines weiteren Richters beim Amtsgericht beschlossen.

Zur Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schöffengericht hat die Kammer ausgeführt, dass weder eine höhere Strafe als vier Jahre zu erwarten (§§ 24 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 Satz 2 GVG) noch mit einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) zu rechnen sei. Auch die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG lägen nicht vor.

Mit ihrer am 13. September 2019 beim Landgericht Münster eingegangenen sofortigen Beschwerde vom 10. September 2019 wendet sich die Staatsanwaltschaft Münster gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer vom 04. September 2019, soweit diese das Hauptverfahren vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Ahaus statt vor der Strafkammer eröffnet hat. Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht, die zu erwartende ungewöhnlich lange Hauptverhandlung, die Zahl der zu vernehmenden Zeugen sowie die (prognostisch) schwierige Beweisaufnahme sowie auch die besondere Schutzbedürftigkeit der Verletzten der Straftat begründeten die besondere Bedeutung der Sache im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Münster ist gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.

In der Sache hat die sofortige Beschwerde aber keinen Erfolg.

Die Strafkammer hat das Hauptverfahren zu Recht und mit zutreffender Begründung gemäß § 209 Abs. 1 StPO in Verbindung mit §§ 24 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 Satz 2 GVG vor dem sachlich zuständigen Amtsgericht - Schöffengericht - eröffnet.

Eine Zuständigkeit des Landgerichts gemäß § 74 Abs. 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG wurde zu Recht wegen des Fehlens besonderer Umstände des vorliegenden Falles verneint. Besondere Umstände können sich aus unterschiedlichen Kriterien ergeben wie der Schutzbedürftigkeit von Verletzten, dem besonderen Umfang des Verfahrens oder der besonderen Bedeutung der Sache. Dabei unterliegt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang der gerichtlichen Prüfung (BVerG, Urteil vom 19. März 1959, 1 BvR 295/58, juris).

1.

Eine Verhandlung vor dem Landgericht ist entgegen der Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft nicht wegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Verletzten der Straftat erforderlich. Eine besondere Schutzbedürftigkeit von Verletzten, die als Zeugen in Betracht kommen, ist zu bejahen, wenn zu erwarten ist, dass die Vernehmung für die Verletzten nach dessen individuellen Verhältnissen im konkreten Strafverfahren mit einer besonderen Belastung verbunden sein wird, weshalb mehrfache Vernehmungen vermieden werden sollen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 24 GVG, Rn. 6). Die Belastung für den konkreten Zeugen muss daher deutlich üb...

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