Entscheidungsstichwort (Thema)
Gefährdung Straßenverkehr. Fahrereignung. Alter. Fahrpraxis
Leitsatz (amtlich)
1. Zwar wird von einem Kraftfahrer verlangt, sich stets zu vergewissern, ob er nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten imstande ist, den Erfordernissen des Straßenverkehrs zu genügen. Es besteht indes kein Erfahrungssatz des Inhalts, ein Kraftfahrer sei jederzeit zu dieser Selbstprüfung und dazu in der Lage, eigene Fehler und gegebenenfalls seine eigene Fahruntüchtigkeit zu erkennen.
2. Setzt ein Kraftfahrer die Fahrt trotz wiederholten Geratens in den Gegenverkehr, zweier Beinah-Unfälle und einer Kollision fort, verlangt er im weiteren Verlauf den Zündschlüssel zurück und ist er nicht in der Lage, eine polizeiliche Belehrung zu verstehen, liegt die Frage nahe, ob mit seinem Zustand eine Minderung der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik verbunden war, die einer zutreffenden Einschätzung der eigenen Verkehrstüchtigkeit im Wege stand.
3. Allein aufgrund seines Alters muss ein zum Tatzeitpunkt 79jähriger Kraftfahrer, der sich bislang beanstandungsfrei im Straßenverkehr geführt hat, noch keine durchgreifenden Bedenken gegen seine Fahrereignung haben. Für diese Frage kann auch von Bedeutung sein, wie groß seine Fahrpraxis überhaupt noch war und welche Fahrstrecken mit welcher Verkehrsdichte er noch zurückzulegen pflegte.
Normenkette
StGB § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b), Abs. 3 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Bielefeld (Entscheidung vom 18.12.2018; Aktenzeichen 802 Cs 180/18) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen - mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen - aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist mit Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 18. Dezember 2018 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt worden. Dem Angeklagten ist die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein ist eingezogen worden. Die Verwaltungsbehörde ist angewiesen worden, dem Angeklagten vor Ablauf einer Sperrfrist von noch fünf Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Angeklagte am 00. Juni 2018 mit einem PKW eine Straße in C. Dabei kam er zweimal so weit nach links auf die Gegenspur, dass sich die dort fahrenden Autos jeweils so weit nach rechts bewegen mussten, dass sie ihre Fahrspur in Richtung Bankette bzw. Graben verlassen mussten. Trotz Hupens und Lichthupe reagierte der Angeklagte jeweils erst im letzten Moment, konnte aber eine Kollision mit diesen Fahrzeugen noch vermeiden. Im weiteren Straßenverlauf kam der Angeklagte wiederum nach links auf die Gegenfahrbahn und wurde von dem Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs mit Hupe und Lichthupe gewarnt. Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs wich auf den Grünstreifen aus, was aber nicht mehr ausreichte, um eine Kollision zu verhindern. Beide Fahrzeuge berührten sich mit den Außenspiegeln, wodurch ein Sachschaden entstand. Der Angeklagte fuhr ungeachtet der Kollision weiter. Als der Angeklagte aufgrund stockenden Verkehrs anhielt, gelang es einem anderen Zeugen, sich in das Fahrzeug des Angeklagten zu beugen und den Zündschlüssel abzuziehen. Der Angeklagte machte auf den Zeugen und einen eintreffenden Polizeibeamten einen verwirrten und apathischen Eindruck. Er hatte sich auf seinem Fahrzeugsitz eingenässt. Er war schweißgebadet und konnte nicht sicher stehen. Eine rechtliche Belehrung war dem Polizeibeamten aufgrund des Zustands des Angeklagten nicht möglich.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten verurteilt, weil er - so das Amtsgericht - bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt - zumindest nach der ersten Beinahe-Kollision - hätte erkennen können, dass er sich aufgrund der festgestellten geistigen und körperlichen Mängel bei der Tat in einem fahruntüchtigen Zustand befunden habe.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässig erhobene und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Sprungrevision führt zur Aufhebung des Urteils mit den zugrunde liegenden Feststellungen, soweit sie nicht das äußere Tatgeschehen betreffen.
1.
Nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen ist zwar der objektive Tatbestand einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315c Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 3 Nr. 2 StGB erfüllt. Der Angeklagte erweckte unmittelbar nach dem Tatgeschehen einen verwirrten und apathischen Eindruck, war schweißgebadet und hatte sich auf seinem Fahrzeugsitz eingenässt. Er konnte nicht sicher stehen, eine rechtliche Belehrung war dem Polizeibeamten aufgrund des Zustands des Angeklagten nicht möglich. Kurz darauf musste wegen weiterer Verschlechterung des Zustands des Angeklagten sogar d...