Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen der Eigensicherung eines Fahrgastes im Linienbus.
Die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises durch einen gehbehinderten Fahrgast führt nicht zwingend zu einer besonderen Rücksichtnahmepflicht des Busfahrers.
Normenkette
BefBedV § 4; BGB § 254; BOKraft § 14 Abs. 3 Nr. 4; StVG §§ 7, 18
Verfahrensgang
LG Bochum (Aktenzeichen 8 O 23/17) |
Tenor
Die Klägerin wird darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, ihre Berufung gegen das am 21.03.2017 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 8. Zivilkammer des Landgerichts Bochum durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Die Klägerin erhält Gelegenheit, binnen zwei Wochen ab Zustellung dieses Hinweises Stellung zu nehmen und mitzuteilen, ob die Berufung weiter aufrechterhalten oder aus Kostengründen zurückgenommen wird.
Gründe
I. Die schwerbehinderte Klägerin nimmt die Beklagten nach einem Sturz in einem Linienbus der Beklagten zu 1) auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch. Die Klägerin hat das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Ihr Schwerbehindertenausweis (Kopie Bl. 8 d.A.) ist deshalb durch einen halbseitigen orangefarbenen Flächenaufdruck gekennzeichnet (vgl. § 1 Abs. 2 SchwbAwV). Auf der Rückseite des Ausweises ist das Merkzeichen G eingetragen (vgl. § 3 Abs. 1 Nr.7 SchwbAwV). Jedenfalls die Vorderseite des Ausweises zeigte die Klägerin dem Fahrer des Linienbusses, dem Beklagten zu 2), beim Zusteigen in den Bus vor. Die Klägerin wollte sich einen Sitzplatz in der Nähe des Ausstiegs suchen. Auf ihrem Weg dorthin ging sie an mehreren freien Sitzplätzen vorbei. Bei der Anfahrt des Busses kam die Klägerin zu Fall und verletzte sich. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und der genauen Fassung der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf das landgerichtliche Urteil verwiesen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Sturz der Klägerin beruhe nicht auf einem vorwerfbaren Fehlverhalten des Beklagten zu 2), sondern auf der unterlassenen Eigensicherung der Klägerin. Die Klägerin sei verpflichtet gewesen, sich unmittelbar nach dem Einsteigen in den Bus sicheren Halt zu verschaffen. Diese Eigensicherung habe die Klägerin nicht vorgenommen, da sie sich nicht auf einen der zur Verfügung stehenden freien Sitzplätze gesetzt habe, sondern im Bus nach hinten gegangen sei, um einen Sitzplatz in der Nähe des Ausstiegs einzunehmen. Damit beruhe der Sturz ausschließlich auf dem Verschulden der Klägerin selbst, denn weder sei der Beklagte zu 2) verpflichtet gewesen, mit dem Anfahren abzuwarten noch habe die Klägerin darauf vertrauen dürfen, dass der Beklagte zu 2) mit dem Anfahren abwarten werde, bis sich die Klägerin gesetzt hatte. Zwar habe die Klägerin ihren Schwerbehindertenausweis beim Einsteigen in den Bus vorgezeigt. Allein aufgrund des Vorzeigens eines derartigen Ausweises sei der Busfahrer jedoch nicht gehalten, von einem Anfahren abzusehen, bis der Fahrgast sich gesetzt habe. Ein Zurückstellen des Anfahrens könne von dem Linienbusfahrer nur dann erwartet werden, wenn der Fahrgast offenkundig hilfsbedürftig sei. Eine solche Hilfsbedürftigkeit ergebe sich nicht allein aus der Inhaberschaft eines Schwerbehindertenausweises. Es würden auch die Anforderungen an den Fahrer überspannt, wenn man erwarte, dass er beim Vorzeigen eines derartigen Ausweises während des Einsteigens - quasi im Vorbeigehen - den genauen Inhalt eines solchen Ausweises erfasse. Zu einer besonderen Rücksichtnahme sei der Linienbusfahrer vielmehr nur bei offenkundigen körperlichen Einschränkungen des Fahrgastes verpflichtet. Offenkundige körperliche Einschränkungen lägen bei der Klägerin aber nicht vor. Diese benutze weder einen Rollator noch eine andere Gehhilfe. Das Verhalten der Klägerin habe für den Beklagten zu 2) trotz des Vorzeigens des Schwerbehindertenausweises im Gegenteil nahegelegt, dass die Klägerin gerade keine besondere Rücksichtnahme benötige. Denn die Klägerin habe sich nicht - wie es bei der von ihr behaupteten Einschränkung aber erforderlich gewesen wäre - auf den nächsten freien Sitzplatz gesetzt, sondern habe den Bus nach hinten durchschritten, um einen ihr genehmen Sitzplatz anzusteuern. Für den Beklagten zu 2) sei, nachdem die Klägerin mehrere Sitzmöglichkeiten ignoriert habe, nicht einmal absehbar gewesen, ob sie sich überhaupt habe hinsetzen wollen. Angesichts dieses Verhaltens der Klägerin habe der Beklagte zu 2) diese nicht für besonders hilfsbedürftig halten müssen und losfahren dürfen. In Anbetracht des sich ankündigenden Anfahrens des Busses sei die Klägerin zudem verpflichtet gewesen, sich sicheren Halt zu verschaffen.
Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Klagebegehren weiter. Sie rügt, entgegen der Ansicht des Landgerichts habe der Beklagte zu 2) mit dem Anfahren abwarten müssen. Das Zurückstellen des Anfahrens könne von einem Linienbusfahrer erwartet werden, wenn de...