Leitsatz (amtlich)
1. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verstößt nicht gegen die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK.
2. Durch eine konventionskonforme Auslegung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO kann keine Konkordanz zur EMRK dahingehend hergestellt werden, dass auf die Berufung des Angeklagten bereits aufgrund der Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers eine Verhandlung zur Sache stattzufinden hat.
Ebenso wie der Wahlverteidiger bedarf auch der Pflichtverteidiger zur Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung einer besonderen schriftlichen Vertretungsvollmacht. War der Rechtsanwalt zunächst Wahlverteidiger und ist dann zum Pflichtverteidiger bestellt worden, ist eine dem Rechtsanwalt als Wahlanwalt ggf. erteilte Vertretungsvollmacht ggf. neu zu erteilen, da die ursprüngliche Vertretungsvollmacht durch die Beiordnung als Pflichtverteidiger erloschen ist.
Verfahrensgang
LG Siegen (Entscheidung vom 24.02.2012) |
Tenor
Die Revision wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Angeklagte.
Gründe
Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Olpe vom 30.11.2011 wegen "zweifachen Diebstahls geringwertiger Sachen im Zustand nicht auszuschließender verminderter Schuldfähigkeit und fünffacher Leistungserschleichung" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.
Auf seine rechtzeitig eingelegte Berufung beraumte das Landgericht Siegen Hauptverhandlungstermin auf den 24.02.2012 an. Zu diesem Termin erschien lediglich der - als Pflichtverteidiger beigeordnete - Verteidiger des Angeklagten; der Angeklagte selbst erschien trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne Angabe von Gründen nicht. Obwohl der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung erklärte, zur Verteidigung des Angeklagten bereit zu sein, verwarf das Landgericht Siegen die Berufung gem. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Gegen dieses Urteil richtet sich die rechtzeitig eingelegte und begründete Revision des Angeklagten. Er macht mit der allein erhobenen formellen Rüge geltend, das Urteil verstoße gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c) MRK und verletze daher das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dürfe eine Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO nicht erfolgen, da das Recht auf effektiven Verteidigerbeistand vorgehe. Sei ein Angeklagter nicht zum Hauptverhandlungstermin erschienen, müssten die Gerichte dem Verteidiger in diesem Fall die Möglichkeit geben, den Angeklagten in seiner Abwesenheit zu verteidigen.
II.
Die in zulässiger Weise eingelegte und begründete Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
Die Verfahrensrügen greifen nicht durch. Das Landgericht Siegen hat weder gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen noch den Anspruchs des Angeklagten auf rechtliches Gehör verletzt, indem es die Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen hat, obwohl ein verteidigungsbereiter Pflichtverteidiger anwesend war.
1.)
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit Beschluss vom 27.12.2006 (2 BvR 535/04, [...]) entschieden, dass die Regelung und Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gegen das Recht des Angeklagten auf eine effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt und dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) genügt. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt:
"Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Anwesenheit des Angeklagten stellen diesen als selbstverantwortlichen Menschen mit eigenen Verteidigungsrechten in den Mittelpunkt der Hauptverhandlung. Sie sind auf dem Rechtsgedanken aufgebaut, dass das Gericht seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Zumessung der Rechtsfolgen nur dann genügt, wenn es den Angeklagten vor sich sieht und ihn mit seiner Verteidigung hört. Damit wird Art. 103 Abs. 1 GG und dem darin enthaltenen Recht auf Selbstbehauptung in der bestmöglichen Form genügt. Auch die Menschenrechtskonventionen erfassen mit dem Verteidigungsrecht das Recht auf Anwesenheit: Art. 14 Abs. 3 Buchstabe d IPBPR sieht es ausdrücklich vor; für die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte folgt es aus dem Recht, sich selbst zu verteidigen (vgl. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl.., Stand: 1. April 1997,.§ 230 1). Die Anwesenheit des Angeklagten als ein den Strafprozess beherrschender Grundsatz dient auch dazu, dem Angeklagten die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung zu sichern (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 1952 - 3 StR 83/52 -, BGHSt 3, 187, 190 f.).
Die Anwesenheitspflicht soll aber auch der Wahrheitsfindung dienen, wie die Vorbehalte in §§ 231 Abs. 2, 231 a Abs. 1 StPO bestätigen. Schon die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks vom Angeklagten - seines Auftretens und seiner 'Einlassung - kann der Urteilsfindung des Gerichts dienlich sein, selbst in Fällen, in denen der Angeklagte schweigt und jede aktive M...