Tenor
- Über die Zulässigkeit der Auslieferung soll erneut entschieden werden.
- Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:Ist Art. 9 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Asyl-VRL) in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (QualifikationsRL) dahin auszulegen, dass die bestandskräftige Anerkennung einer Person als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union für das Auslieferungsverfahren in dem um Auslieferung einer solchen Person ersuchten Mitgliedstaat aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 AEUV) in der Weise verbindlich ist, dass damit eine Auslieferung der Person an den Drittstaat oder Herkunftsstaat zwingend ausgeschlossen ist, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist?
- Die neue Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung wird bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens zurückgestellt.
Gründe
I.
Der Verfolgte ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und war im Jahr 2010 aus der Türkei ausgereist und hatte in Italien um politisches Asyl gebeten. Die territoriale Kommission in Turin hat den Verfolgten mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. Mai 2010 nach persönlicher Anhörung aufgrund eines entsprechenden Antrages des Verfolgten, der geltend gemacht hatte, wegen angeblicher Unterstützung der PKK von den türkischen Behörden politisch verfolgt zu werden, als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Er ist im Besitz eines von den italienischen Behörden ausgestellten Flüchtlingsausweises, der bis zum 25. Juni 2030 gültig ist. Der Verfolgte hält sich seit Juli 2019 dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Die türkischen Behörden haben den Verfolgten über Interpol zur Festnahme zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung wegen Totschlags u.a. ausgeschrieben. Der Ausschreibung liegt der Haftbefehls des A. 1. High Criminal Court vom 3. Juni 2020 (Aktenzeichen: 2019/145) zugrunde.
Dem Verfolgten wird Folgendes zur Last gelegt:
Der Verfolgte soll am 9. September 2009 in A. zunächst einen Streit mit Verwandten über den Anbau von Tomaten auf ihrem gemeinsamen Feld gehabt haben. Der Verfolgte soll nach dieser Auseinandersetzung nach Hause zurückgekehrt sein und dort nach einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Vater und seinem Bruder einen Gewehrschuss abgegeben und dabei seine Mutter getroffen haben, die später im Krankenhaus an den dabei erlittenen Verletzungen verstorben sein soll.
Der Senat hat mit Beschluss vom 24. November 2020 gegen den am 18.November 2020 festgenommenen Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft und nach Eingang der erforderlichen Auslieferungsunterlagen auf dem dafür vorgesehenen Geschäftsweg, die der Interpolausschreibung entsprechen, mit Beschluss vom 23. Dezember 2020 die förmliche Auslieferungshaft angeordnet, die bis zum 14. April 2022 vollzogen wurde.
Mit Beschluss vom 2. November 2021 hat der Senat die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zur Strafverfolgung für zulässig erklärt und die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet. Dabei hat der Senat unter anderem ausgeführt, dass ein Auslieferungshindernis gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), Art. 3 Abs. 1 und 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) nicht vorliege. Das Vorbringen des Verfolgten sowie die von ihm eingereichten Unterlagen und die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse aus dem italienischen Asylverfahren würden keine ernstlichen Gründe für die Annahme ergeben, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nicht politischen strafbaren Handlung gestellt worden sei, um den Verfolgten aus auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen (Art. 3 Abs. 2 1. Alt. EuAlÜbk) oder dass der Verfolgte im Falle der Überstellung der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage aus solchen Gründen ausgesetzt wäre (Art. 3 Abs. 2 2. Alt. EuAlÜbk).
Hinsichtlich der Anerkennung des Verfolgten durch die italienischen Behörden als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention hat der Senat ausgeführt, dass durch diese Anerkennung kein generelles Auslieferungsverbot begründet worden sei.
Bei dem Auslieferungsverfahren und dem Asylverfahren - sei es ein inländisches oder wie hier ausländisches - handele es sich um getrennte Verfahren mit der grundsätzlichen Möglichkeit divergierender Entscheidungen. Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und -gerichte hätten für das Auslieferungsverfahren, wie sich aus § 6 S. 2 Asylgesetz (AsylG) ergebe, keine Bindungswirkung, ihnen komme jedoch für die eigenständige Prüfung der Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 IRG und des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk im Auslieferungsverfahren eine Indizwirkung...