Leitsatz (amtlich)
Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit mit dem Ziel, einem akut erkrankten Patienten erste Hilfe zu leisten, kann nach § 16 OWiG gerechtfertigt sein. Allerdings muss eine solche Gefahrenlage tatsächlich gegeben sein und darf nicht - ohne weiteres - nach der Einlassung des Betroffenen als unwiderlegbar angenommen werden.
Verfahrensgang
AG Bochum (Entscheidung vom 23.09.2004) |
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wird auf Kosten des Betroffenen verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat eine fahrlässige Überschreitung der innerörtlich zulässigen Geschwindigkeit ( 50 km/h) um 40 km/h (nach Abzug eines Toleranzwertes von 3 km/h) festgestellt und den Betroffenen zu einer Geldbuße von 35,- EUR verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen hatte die Verwaltungsbehörde den zunächst auf eine Geldbuße von 100,-EUR sowie ein einmonatiges Fahrverbot lautenden Bußgeldbescheid aufgehoben und sodann im Hinblick auf die von dem Betroffenen geltend gemachte Notstandssituation eine Geldbuße von 35,-EUR festgesetzt. Das Amtsgericht hat unter Verneinung einer Notstandssituation eine Geldbuße in gleicher Höhe festgesetzt. Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel des Betroffenen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist zwar zulässig, kann in der Sache jedoch keinen Erfolg haben.
Bei der Festsetzung einer Geldbuße von nicht mehr als 100,-EUR ist die Rechtsbeschwerde wegen der Anwendung von Rechtsnormen über das Verfahren nicht und wegen der Anwendung von anderen Rechtsnormen nur zur Fortbildung des Rechts zuzulassen ( § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG).
Die materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils führt überdies vorliegend nicht zur Aufdeckung einer Rechtsfrage, welche die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts gebietet, wie es bei entscheidungserheblichen, klärungsbedürftigen und abstraktionsfähigen Rechtsfragen in Betracht kommt.
Denn zur Fortbildung des materiellen Rechts ist die Rechtsbeschwerde nur zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen ( zu vgl. Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 80 Rn. 3 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.
Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung vielmehr hinreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen die Begehung einer Verkehrsordnungswidrigkeit, insbesondere eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit aufgrund eines Notstandes im Sinne des § 16 OWiG gerechtfertigt ist ( vgl. Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1995 in 2 Ss OWi 1097/95; sowie Beschluss des 1. Senats vom 30. Oktober 2001 in 1 Ss OWi 824/01 sowie des 3. Senats vom 20. Januar 1998 in 3 Ss OWi 1555/97; vgl. auch Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 16 Rn. 8a ff. m.w.N.; KK-Rengier; OWiG 1989, § 16 Rn. 20ff., 32ff m.w.N.).
Danach kann die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit mit dem Ziel, einem akut erkrankten Patienten erste Hilfe zu leisten, nach § 16 OWiG gerechtfertigt sein (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1995 in 2 Ss OWi 1097/95 = NZV 1996, 205 = ZAP EN-Nr. 11/96 = zfs 1996, 77 =NStZ 1996, 344 = NJW 1996, 2437 = VRS 91, 125). Allerdings muss eine solche Gefahrenlage tatsächlich gegeben sein und nicht - ohne weiteres- nach der Einlassung des Betroffenen als unwiderlegbar angenommen werden. Weiter ist zu prüfen, ob bei Abwägung der widerstreitenden Interessen Leben und Gesundheit des Fahrgastes einerseits und die Verkehrssicherheit bzw. die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer anderseits unter den konkreten Umständen die Fortsetzung bzw. Aufnahme der Fahrt das zur Gefahrenabwehr geeignete Mittel war (vgl. Senatsbeschluss a.a.O.). Insoweit hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit überhaupt ein geeignetes Mittel zu Gefahrenabwehr war, wenn diese im konkreten Fall nur einen geringen Zeitgewinn bewirkt hat (vgl. insoweit OLG Düsseldorf VRS 88, 454 (455); KG VRS 53, 60; KK-Rengier a.a.O. Rn. 17; vgl. auch BayObLG NJW 2000, 888, das im Falle eines Arztes nach den konkreten Umständen eine akute Gefahr verneint hat, die ggf. auch bei nur geringem Zeitgewinn eine andere Bewertung ermöglicht. ). Außerdem kann selbst im Falle einer dringenden Behandlungsbedürftigkeit eines akut erkrankten Patienten die Geschwindigkeitsüberschreitung unzulässig sein, wenn auf der Fahrt andere Verkehrsteilnehmer gefährdet werden oder die Fahrweise des Arztes eine solche Gefährdung auch nur befürchten lässt (vgl. BayObLG NZV 1991, 82; vgl. andererseits, wenn eine Gefährdung andere Verkehrsteilnehmer nahezu ausgeschlossen werden kann OLG Hamm NJW 1977, 1892). Es kommt daher entscheidend darauf an, welche Gefahren mit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verbunden waren, ferner darauf, wie die allgemeine Verkehrslage und Verkehrsdichte zur Tatzeit war (vgl. BayObLG ...