Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafaussetzung zur Bewährung. Widerruf. Verlängerung der Bewährungszeit. Vertrauensschutz. Gesamtstrafenbeschluss
Leitsatz (amtlich)
Ein dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung entgegenstehender Vertrauenstatbestand kann gegeben sein, wenn zum Zeitpunkt der nachträglichen Gesamtstrafenbildung bereits bekannt war, dass die verurteilte Person zeitlich nach der Verhängung der im Gesamtstrafenbeschluss zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist und der Richter die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe dennoch zur Bewährung aussetzt. Das gilt aber nur dann, wenn der Verurteilte entweder davon Kenntnis hatte, bei Abfassung des Gesamtstrafenbeschlusses dem Gericht die neue Verurteilung bekannt war oder er aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte hiervon ausgehen durfte.
Normenkette
StGB § 56 f.
Verfahrensgang
AG Siegen (Entscheidung vom 04.03.2022; Aktenzeichen 445 Ls- 64 Js 1349/18-83/19) |
LG Bielefeld (Aktenzeichen 015 StVK 2582/23 BRs) |
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Bewährungszeit aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Siegen vom 04.03.2022, Az. 445 Ls- 64 Js 1349/18-83/19, wird um ein Jahr verlängert.
Dem Verurteilten wird die Weisung erteilt, zum 04.01.2024 eine stationäre Drogenentwöhnungstherapie in der Klinik U., Psychosomatische Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen, G.-straße, # U., anzutreten, diese für mindestens 22 Wochen durchzuführen und die dortige Behandlung nicht gegen ärztlichen Rat und ohne Zustimmung der Strafvollstreckungskammer abzubrechen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Der Verurteilte steht unter der Bewährungsaufsicht der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld wegen der Strafaussetzung aus einem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Siegen vom 04.03.2022, rechtskräftig seit dem 19.03.2022. Darin hat das Amtsgericht Siegen aus Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Siegen vom 30.06.2020 sowie vom 11.12.2018 nachträglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten gebildet und die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.
Durch Urteil des Landgerichts Köln vom 16.12.2021 ist der Verurteilte wegen bewaffneten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Führen eines verbotenen Gegenstands (Butterflymesser) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Tatdatum war der 02.09.2021.
Mit hier angefochtenem Beschluss vom 30.10.2023 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld die zur Bewährung ausgesetzte Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe widerrufen. Gegen diesen - ihm am 06.11.2023 zugestellten - Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde vom 09.11.2023.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO, § 56f Abs. 1 StGB statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Widerrufsbeschluss war aufzuheben, die Bewährungszeit um ein Jahr zu verlängern und eine Therapieweisung zu erteilen.
Ein Widerrufsgrund gemäß § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB liegt vor, da der Verurteilte in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe eine Straftat begangen und dadurch gezeigt hat, dass sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat.
Einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Strafvollstreckung steht vorliegend auch kein Vertrauenstatbestand entgegen. Ein solcher kann gegeben sein, wenn zum Zeitpunkt der nachträglichen Gesamtstrafenbildung bereits bekannt war, dass die verurteilte Person zeitlich nach der Verhängung der im Gesamtstrafenbeschluss zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist und der Richter die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe dennoch zur Bewährung aussetzt (Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 56f Rn. 5, OLG Celle, Beschluss vom 08.08.2011 - 2 Ws 191, 192/11, BeckRS 2011, 23534, beck-online).
Dies ist hier nicht der Fall. Denn für den Verurteilten konnten sich aus dem Inhalt des allein textbausteinartig begründeten Gesamtstrafenbeschlusses vom 04.03.2022 (ebenso wie aus demjenigen vom 25.01.2022) keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dem dort entscheidenden Tatrichter die Verurteilung durch das Landgericht Köln vom 16.12.2021 bekannt gewesen ist und dieser gleichwohl in Kenntnis der Verurteilung eine bewusste Entscheidung zugunsten einer erneuten Strafaussetzung der Vollstreckung der neu gebildeten Gesamtstrafe zur Bewährung getroffen hätte. Au...