Entscheidungsstichwort (Thema)
Absehen von der Vollstreckung. Sicherungsverwahrung. Abschiebung. Rückkehrgefahr. Kriminalprognose
Leitsatz (amtlich)
1. Eine ungünstige Kriminalprognose ist nur insoweit von Bedeutung für die Ermessenentscheidung im Rahmen des § 456a Abs. 1 StPO, als dass sie konkrete Rückschlüsse darauf zulässt, der (abgeschobene) Betroffene werde alsbald wieder ins Inland zurückkehren und hier neue Straftaten begehen.
2. Nach vollständiger Verbüßung der (hier elfjährigen) Strafhaft spielen bei der Frage des Absehens von der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung Abwägungsfaktoren wie insbesondere die Umstände der Tat und die Schwere der Schuld - jedenfalls im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung - keine Rolle mehr.
3. Allerdings sind Kriminalprognose und konkrete Tatsachen für eine Rückkehrgefahr im Rahmen der Abwägung "wechselseitig" zu berücksichtigen, und zwar auch im Hinblick auf das zeitliche Moment einer "alsbaldigen" Rückkehr. Je ungünstiger sich die Legalprognose darstellt und je gravierender die zu erwartenden Straftaten unter Berücksichtigung der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter sind, desto geringer müssen die (konkreten) Anhaltspunkte einer Gefahr für eine alsbaldige Rückkehr ins Inland sein und desto großzügiger kann auch die Zeitspanne für das Merkmal einer "alsbaldigen" Rückkehr bemessen werden.
Normenkette
StPO § 456a Abs. 1; EGGVG §§ 23, 28 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Münster (Entscheidung vom 13.10.2008) |
Tenor
Dem Betroffenen wird Prozesskostenhilfe für das Antragsverfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG unter Beiordnung von Rechtsanwalt B in T gewährt.
Der Bescheid der Staatsanwaltschaft Münster vom 07. April 2020 in Gestalt des Beschwerdebescheides der Generalstaatsanwältin in Hamm vom 05. Juni 2020 wird aufgehoben.
Die Staatsanwaltschaft Münster wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei; von einer Erstattung der dem Antragsteller in dem gerichtlichen Verfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten wird abgesehen.
Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt (§ 36 Abs. 3 GNotKG i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 19 GNotKG).
Gründe
I.
Der Betroffene wurde durch Urteil des Landgerichts Münster vom 13. Oktober 2008 wegen schwerer Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung in zehn Fällen und wegen Körperverletzung - sämtlich begangen zum Nachteil seiner damaligen Lebensgefährtin W - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von elf Jahren verurteilt, zudem wurde die Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die elfjährige Gesamtfreiheitsstrafe hat der Betroffene unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft in der Zeit vom 15. Februar 2008 bis zum 14. Februar 2019 voll verbüßt. Seit dem 15. Februar 2019 wird die Sicherungsverwahrung in der JVA X vollstreckt.
Ihn betreffend liegt eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung des Kreises T1 vom 14. März 2013 vor.
Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 02. März 2020, ergänzt durch weiteren anwaltlichen Schriftsatz vom 27. März 2020, beantragte der Betroffene bei der Staatsanwaltschaft Münster das Absehen von der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gemäß § 456a Abs. 1 StPO. Diesen Antrag lehnte die Staatsanwaltschaft Münster mit Bescheid vom 07. April 2020 ab. Zur Begründung führte sie insbesondere aus, angesichts der fortdauernden Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit sei zu besorgen, dass der Betroffene im Falle des Absehens von der weiteren Vollstreckung der Maßregel bei Abschiebung seiner Person "erneut einschlägige Straftaten von erheblichem Gewicht ähnlich den Anlasstaten begehen" werde, und zwar "erhebliche Gewalttaten, insbesondere im Rahmen partnerschaftlicher Beziehungen zum Nachteil seiner Partnerinnen". Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Ablehnungsbescheid der Staatsanwaltschaft Münster vom 07. April 2020 Bezug genommen. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 08. Mai 2020 wies die Generalstaatsanwältin in Hamm durch (Beschwerde-)Bescheid vom 05. Juni 2020 unter Bezugnahme auf den angegriffenen Ablehnungsbescheid als unbegründet zurück. Insbesondere wurde zur Begründung ausgeführt, in dem Ablehnungsbescheid sei zu Recht darauf hingewiesen worden, "dass sich die Gefährlichkeit Ihres Mandanten nicht ersichtlich abgeschwächt hat". Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid der Generalstaatsanwältin in Hamm vom 05. Juni 2020 verwiesen.
Nach Zustellung dieses Bescheides hat der Betroffene mit am selben Tag per Telefax beim Oberlandesgericht Hamm eingegangenem Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 02. Juli 2020 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG gestellt, mit dem er (sinngemäß) die Aufhebung des staatsanwaltschaftlichen Bescheides vom 07. April 2020 in Gestalt des Beschwerdebescheides der Generalstaatsanwältin in Hamm vom 05. Juni ...