Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Sorgerechtsentzug bei Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung eines schwerstbehinderten Kindes
Leitsatz (redaktionell)
Die Entscheidung der Eltern über den Behandlungsabbruch bei einem im Koma liegenden Kind, das an einem irreversiblen apallischen Syndrom leidet, gehört zum verfassungsrechtlich geschützten Bereich elterlicher Verantwortung; ein Eingreifen des FamG ist nur unter den Voraussetzungen des § 1666 BGB möglich.
Normenkette
GG Art. 6; BGB §§ 1666, 1666a
Verfahrensgang
AG Minden (Beschluss vom 20.03.2007; Aktenzeichen 32 F 53/07) |
Nachgehend
Tenor
Der am 20.3.2007 durch Zustellung bekannt gemachte Beschluss des AG - FamG - Minden wird aufgehoben. Das Verfahren auf Entziehung der elterlichen Sorge wird eingestellt.
Auslagen werden nicht erstattet. Der Gegenstandswert beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I. Das FamG hat den Beschwerdeführern mit dem angefochtenen Beschluss einen Teil der elterlichen Sorge für ihre Tochter K entzogen, nämlich das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge, und eine Pflegschaft eingerichtet. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Absicht der Eltern, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen bei K und ihre künstliche Ernährung beenden zu wollen mit der Konsequenz, dass das Kind sterbe, gefährde das Kindeswohl und überschreite den ihnen zuzubilligenden Ermessensspielraum. Ob und inwieweit künftig eine Wiederherstellung zumindest insoweit möglich sein werde, dass dem Kind zumindest eine basale Teilhabe am Leben ermöglicht werden könne, sei offen. Wegen des zugrundeliegende Sachverhalts und der vollständigen Gründe wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.
II. Dagegen wenden sich die Eltern mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten befristeten Beschwerde, mit welcher sie die Zurückübertragung der gesamten elterlichen Sorge erstreben. Sie verteidigen ihre Absicht, K sterben zu lassen. Im Einzelnen führen sie u.a. aus:
"K befindet sich im apallischen Syndrom, welches nach sicherer ärztlicher Bewertung irreversibel ist. Dies bedeutet nach schulmedizinischem Konsens, dass sie für immer ohne Bewusstsein ist und für immer kognitive Denkvorgänge der Großhirnrinde unmöglich sind, weil für diese eben eine Funktion der Großhirnrinde (Pallium) notwendig ist, welche bei K irreversibel geschädigt ist (a-pallisch). Selbstverständlich reagiert K auf verschiedene Reize. Dies wird von Strukturen des Gehirns unter der Großhirnrinde (basale Strukturen) geleistet. Infolge der Schädigung leidet K an schwersten Spastiken aller vier Quadranten des Körpers (Tetraspastik). Dadurch ist K völlig steif und es hat sich sogar die Wirbelsäule verdreht. Der Zustand hat sich in den letzten Wochen tendenziell verschlechtert. Sie kann nur für den Außenstehenden mangels Schmerzsymptomatik einen Eindruck des Zufriedenseins vermitteln, den K mangels Funktion der Großhirnrinde selbst jedoch nicht bewusst empfinden kann. Damit wird eine Zufriedenheit auf basaler Wahrnehmungsebene postuliert. Nach außen zeigt sich lediglich eine Symptomlosigkeit, die nicht mit Zufriedenheit gleichzusetzen ist. Um K aber symptomlos zu machen, bedarf es einer noch intensiveren Medikamentengabe (ggf. auch über die "Spastikpumpe"), wonach selbst Ks basale Reaktionen mehr oder weniger zum Erliegen kommen würden. So ist K schon in den letzten Wochen praktisch nur noch im Tiefschlaf zu halten. So würde ihr weiteres Leben aussehen.
K liegt so lange nicht im Sterben, solange die infolge der Großhirnzerstörung verloren gegangene Fähigkeit der natürlichen Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung durch Infusion kalorischer Flüssigkeit über die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie-Ernährungssonde durch die Bauchdecke direkt in den Magen) substituiert wird. So lange werden voraussichtlich Nieren, Herz und Lunge - und damit der Kreislauf - "funktionieren". Ohne den Erhalt dieser lebenswichtigen Körperfunktionen wäre längst der Tod eingetreten. Ks verbliebene Körperfunktionen können noch jahrelang künstlich erhalten werden.
Die lebenserhaltende Zufuhr von kalorischer Nahrung über die PEG ist eine medizinische Behandlung (BGH v. 13.9.1994 - 1 StR 357/94, MDR 1995, 80 = NJW 1995, 204 ff. und Grundsätze der Bundesärztekammer zu ärztlichen Sterbebegleitung). Jede ärztliche Behandlung ist invasiv, tatbestandsmäßig damit eine Verletzung der körperlichen Integrität, so auch die PEG.
Zu ihrer Rechtfertigung bedarf es nach herrschendem Medizinrecht kumulativ der ärztlichen Indikation und der Zustimmung des Patienten.
Die Grundsätze der Bundesärztekammer von 2004 halten beim Apalliker grundsätzlich eine lebenserhaltende Ernährungstherapie für indiziert, allerdings unter Beachtung seines Willens. Erst bei Hinzutreten weiterer negativer Entwicklungen über das alleinige Andauern des Wachkomas hinaus käme eine Beendigung in Frage. K leidet "neben" dem apallischen Syndrom an kaum mehr zu beherrschenden Spastiken. Die Universitätsk...