Leitsatz (amtlich)
Auch Rechtskundige haben einen Anspruch auf Pflichtverteidigung.
Verfahrensgang
AG Essen (Entscheidung vom 08.07.2003) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen veruntreuender Unterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner (Sprung-)Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Zur Begründung der formellen Rüge hat der Angeklagte ausgeführt, dass die Hauptverhandlung am 8. Juli 2003 in wesentlichen Teilen ohne Verteidiger stattgefunden habe, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig gewesen sei.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt,
die Revision als unbegründet zu verwerfen.
Die Sprungrevision des Angeklagten ist zulässig und hat mit der formellen Rüge auch - zumindest vorläufigen - Erfolg.
Der Angeklagte macht mit seiner gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO in zulässiger Form begründeten Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO geltend, weil die Hauptverhandlung gegen ihn in wesentlichen Teilen ohne den Beistand eines Verteidigers und somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat.
1)
Die Mitwirkung eines Verteidigers war in der Hauptverhandlung am 8. Juli 2003 - entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft - gem. § 140 Abs. 2 StPO notwendig. Nach dieser Vorschrift ist einem Angeklagten u.a. dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dies wegen der Schwere der Tat geboten erscheint. Die Schwere der Tat beurteilt sich nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 140 Rdnr. 23 m.w.N.) bei der es allerdings keine starre Grenze gibt (OLG Düsseldorf StraFo 1997. 335). Dabei sind neben der eigentlichen Straferwartung auch sonstige schwer wiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung von Gesetzes wegen oder wenigstens nach feststehender Rechtspraxis zu erwarten hat, zu berücksichtigen (OLG Hamburg NStZ 1984, 281).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte hier dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Der Angeklagte ist zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Bewährung verurteilt worden, was nach überwiegender Meinung in Rechtsprechung und Literatur, der auch die ständige Rechtsprechung des Senats entspricht, in aller Regel die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich gemacht hätte (OLG Hamm NStZ-RR 2001, 373, OLG Braunschweig StV 1996, 6; OLG Karlsruhe 1992, 313). Die übrigen hier zu berücksichtigenden Umstände wiegen neben der verhängten einjährigen Freiheitsstrafe zusätzlich derart schwer, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich war. Der Angeklagte, der von Beruf Rechtsanwalt ist, hat als Konsequenz der Verurteilung nach § 114 Abs. 1 Ziffer 5 BRAO mit der Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft zu rechnen. zumindest aber nach § 114 Abs. 1 Ziffer 4 BRAO mit einem zeitlichen Verbot auf bestimmten Rechtsgebieten als Vertreter aufzutreten. Dabei sind für die Entscheidung im anwaltsgerichtlichen Verfahren nach § 118 Abs. 3 BRAO die tatsächlichen Feststellungen des strafrechtlichen Urteils bindend, auf denen die Entscheidung des Gerichts ruht. Hinzu kommt, dass der Angeklagte bei rechtskräftiger Verurteilung mit erheblichen haftungsrechtlichen Folgen zu rechnen haben wird (OLG Hamm StV 1989, 56). Dem steht auch nicht entgegen, dass der Angeklagte selbst Rechtsanwalt ist und der Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit seines Verteidigers zugestimmt hat, denn die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 besteht auch bei Rechtskundigen, selbst wenn er zu den nach § 138 Abs. 1 StPO zu Verteidigern wählbaren Personen gehört (BGH MDR 1954, 564), da eine Selbstbestellung unzulässig ist (Meyer-Goßner 46. Aufl. § 138, Rn 6).
Zwar hat der Wahlverteidiger nicht während der gesamten Hauptverhandlung gefehlt; die Revision ist indessen aber auch begründet, wenn er während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung abwesend war obwohl seine Anwesenheit im Sinne des § 226 StPO notwendig war, da es sich - wie bereits ausgeführt - um einen Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StGB gehandelt hat. Ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 8.7.2003 erschien der Wahlverteidiger um 11.30, während die Hauptverhandlung bereits um 11 Uhr begonnen hatte. Das Ende der Hauptverhandlung war ausweislich des Protokolls um 12.40 Uhr. Zwar ist der genaue Verfahrensstand zum Zeitpunkt des Erscheinens des Verteidigers aus dem Protokoll nicht zu entnehmen. Im Hinblick auf die umfangreiche Beweisaufnahme mit 5 Zeugen kann zumindest ni...