Entscheidungsstichwort (Thema)
kein gesetzlicher Ausschluss des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung nach Ablauf der Bewährungszeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ist der Beschuldigte im laufenden Strafverfahren einer gefährlichen Körperverletzung dringend verdächtig, so kann auch ein früher vom Beschuldigten begangener (und bereits abgeurteilter) Totschlag die Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO begründen, wenn eine gefährliche Körperverletzung Durchgangsstadium zum Tötungsdelikt war. Dies gilt auch dann, wenn zwischen den Taten mehr als sechs Jahre liegen. Eine feste zeitliche Grenze, die die Wiederholungsgefahr zwingend entfallen ließe, gibt es nicht.
2. Um die Wiederholungsgefahr zu begründen, muss der Beschuldigte der Katalogtaten mindestens dringend verdächtig sein. Sind nicht alle Taten, die für die Feststellung der Wiederholungsgefahr von Bedeutung sind, Gegenstand des Verfahrens, in dem der Haftbefehl erlassen werden soll, so muss das über die Haftfrage entscheidende Gericht den dringenden Tatverdacht bzgl. der verfahrensfremden Taten eigenverantwortlich prüfen. Es ist nicht angängig, die Verneinung dringenden Tatverdachts wegen der nicht verfahrensgegenständlichen Taten allein damit zu begründen, dass ein anderes Gericht oder ein anderer Spruchkörper diesen bisher nicht bejaht habe.
3. Bei den Anlasstaten im Sinne von § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO muss es sich um die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten handeln. Hierbei muss es sich, da die Katalogtaten ohnehin schon schwerwiegende Taten sind, um solche handeln, die einen überdurchschnittlichen Schweregrad aufweisen. Beurteilungsmaßstab hierfür ist insbesondere der Unrechtsgehalt der Tat, welcher sich anhand der Kriterien, die auch bei der Strafzumessung eine Rolle spielen, festgestellt werden kann.
Leitsatz (redaktionell)
Ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erst nach Ablauf der Bewährungszeit ist gesetzlich nicht ausgeschlossen und kann allenfalls aus Vertrauensschutzgründen im Einzelfall gehindert sein.
Normenkette
StGB § 56f; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Dortmund (Aktenzeichen 92 StVK 418/12 BEW) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde und die Beschwerde werden auf Kosten des Verurteilten verworfen.
Gründe
I.
Gegen den Verurteilten verhängte das Amtsgericht Ratingen mit Urteil vom 06.04.2006 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 48 Fällen. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe setzte das Gericht zur Bewährung aus. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der damals schon mehrfach vorbestrafte und auch hafterfahrene Verurteilte als Kurierfahrer 48 Fahrten mit einem LKW getätigt hatte. Nach einer Verurteilung wegen Betruges zu einer Geldstrafe und einer Verurteilung wegen (vorsätzlichen) Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten, deren Vollstreckung erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde, ist die Bewährungszeit jeweils verlängert worden und endete nach der letzten Verlängerung vom 16.08.2010 am 13.04.2011.
Mit Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 07.02.2011 wurde der Verurteilte wegen (vorsätzlichen) Fahrens ohne Fahrerlaubnis mit einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe (ohne Strafaussetzung zur Bewährung) belegt. Die Tat hatte er am 31.08.2010 mit einem PKW begangen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung verwarf das Landgericht Krefeld mit Urteil vom 19.04.2011. Das Urteil wurde am 08.09.2011 rechtskräftig.
Der Verurteilte befindet sich zur Zeit zur Verbüßung der Strafen aus den beiden letztgenannten Verurteilungen in Strafhaft. Gemeinsamer Zweidritteltermin ist auf den 20.01.2013, Strafende auf den 01.08.2013 notiert.
Der zunächst vom Amtsgericht Krefeld erlassene Widerrufsbeschluss vom 19.03.2012 ist vom Landgericht Krefeld wegen der Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer Dortmund aufgehoben worden. Letztere hat nach schriftlicher Anhörung des Verurteilten die Strafaussetzung zur Bewährung mit dem angefochtenen Beschluss widerrufen. Mit dem weiteren angefochtenen Beschluss hat sie einen Antrag des Verurteilten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Gegen diese am 16.08.2012 zugestellten Beschlüsse hat der Verurteilte am 23.08.2012 sofortige Beschwerde bzw. Beschwerde eingelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, die Rechtsmittel zu verwerfen.
II.
Die Beschwerden haben keinen Erfolg.
1.
Die nach § 453 Abs. 2 S. 3 StPO, 56f StGB statthafte und zulässige sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist unbegründet.
Die zuständige Strafvollstreckungskammer hat die Strafaussetzung zu Recht widerrufen. Nach § 56f Abs. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung zur Bewährung, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit Straftaten begeht und dadurch zeigt, dass sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zu Grunde lag, nicht erfüllt hat. So ist es hier. Der Verurteilte ist gleich mehrfacher Bewährungsversager und er ist sogar zweifach in laufender Bewährungszeit einschlä...