Leitsatz (amtlich)

1. Soweit der Senat die Auffassung vertreten hatte, nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 03.10.2002 setze der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB wegen einer neuen Straftat im Hinblick auf die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK grundsätzlich voraus, dass wegen der neuen Straftat eine rechtskräftige Aburteilung erfolgt sei, hält er hieran nicht mehr fest

2. Ohne eine Aburteilung der Anlasstat ist der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat des Verurteilten ausnahmsweise dann zulässig und verstößt auch nicht gegen die Unschuldsvermutung, wenn der Verurteilte die neue Straftat glaubhaft eingestanden hat.

3. Ausreichend ist nach Auffassung des Senats jedes prozessordnungsgemäß zustande gekommene glaubhafte Geständnis des Verurteilten hinsichtlich der Anlasstat.

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Aktenzeichen 019 StVK 3005/07 BEW)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte.

 

Gründe

G r ü n d e:

I.

Durch Beschluss der 19. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 12. September 2009 ist der Verurteilte nach Verbüßung von jeweils zwei Dritteln der Freiheitsstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 29. Januar 2004 (104 Js 4/03 StA Dortmund) sowie des Gesamtstrafenbeschlusses des Amtsgerichts Bocholt vom 26. April 2004 bedingt aus der Haft entlassen worden. Die Vollstreckung des Strafrestes wurde jeweils zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit

endete am 1. Oktober 2010.

Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hagen vom 1. Oktober 2010 (Az.:

600 Js 120/09) wird dem Verurteilten Bandendiebstahl in 9 Fällen, gewerbsmäßige Bandenhehlerei in einem Fall, gewerbsmäßiger Bandenbetrug in 2 Fällen, Beihilfe zum Betrug in 2 Fällen und Begünstigung in einem Fall vorgeworfen. Eine Hauptverhandlung in dieser Sache ist nach Auskunft des Landgerichts Hagen wegen vorrangiger Haftsachen bislang nicht terminiert. In dieser Sache verbüßte der Verurteilte aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hagen vom 30. April 2009

(66 Gs 856/09) in der Zeit vom 5. Mai 2009 bis 27. August 2009 Untersuchungshaft. Mit Beschluss des AG Hagen vom 27. August 2009 wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, nachdem sich der Verurteilte anlässlich eines Haftprüfungstermins vom selben Tage überwiegend geständig eingelassen hat.

Mit Schreiben des Landgerichts Bielefeld vom 4. Februar 2011 wurde der Verurteilte darauf hingewiesen, dass die Entscheidung über einen Straferlass in den vorliegenden Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des o.g. Verfahrens vor dem Landgericht Hagen zurückgestellt wird.

Nachdem die Staatsanwaltschaft Münster - Zweigstelle Bocholt - beantragt hatte, die Strafrestaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, hat die Strafvollstreckungskammer den Verurteilten mit Schreiben vom 2. Juli 2011 zu diesem beantragten

Widerruf angehört und die durch den Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom

12. September 2007 angeordnete bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft schließlich mit Beschluss vom 24. Februar 2012 widerrufen.

Gegen diesen Beschluss wenden sich der Verurteilte und sein Verteidiger mit jeweils am 12. März 2012 beim Landgericht Bielefeld eingegangenen sofortigen Beschwerden. Wegen der Begründungen wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf Blatt 77 und 85 f. des BewH (104 Js 4/03 StA Dortmund) Bezug genommen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig aber unbegründet. Der Widerruf der Strafrestaussetzung zur Bewährung ist aufgrund des Bewährungsversagens des Verurteilten zu Recht ergangen, §§ 56f Abs. 1 Nr. 1, 57 Abs. 5 Satz 1 StGB. Denn der Verurteilte hat innerhalb der Bewährungszeit Straftaten begangen und hierdurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafrestaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung begegnet im vorliegenden Verfahren zunächst nicht bereits deshalb Bedenken, weil der Beschwerdeführer wegen der ihm vorgeworfenen neuerlichen Straftat noch nicht rechtskräftig verurteilt worden ist. Soweit der Senat die Auffassung vertreten hatte, nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 03.10.2002 (NJW 2004, 43 =

NStZ 2004, 159) setze der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB wegen einer neuen Straftat im Hinblick auf die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK grundsätzlich voraus, dass wegen der neuen Straftat eine rechtskräftige Aburteilung erfolgt sei, hält er hieran nicht mehr fest ( so bereits Senat, Beschluss v. 13.07.2007, 3 Ws 672/07, 3 Ws 681/07).

Nach der Ansicht des EGMR in der vorgenannten Entscheidung wird die Unschuldsvermutung verletzt, wenn in einer gerichtlichen Entscheidung oder in der Erklärung eines Beamten Aussagen zur Schuld einer Person getro...

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