Leitsatz (amtlich)
Kommen für die Behandlung eines Patienten (hier an der Wirbelsäule) sowohl eine operative als auch eine konservative Behandlung in Betracht, ist eine umfassende Aufklärung geboten. Der Patient muss in der Lage sein, einen Abwägungsprozess zwischen der konservativen Behandlung und dem operativen Vorgang vorzunehmen. Dieser Abwägungsprozess ist zu dokumentieren.
Normenkette
BGB §§ 253, 280, 630a, 823
Verfahrensgang
LG Bochum (Aktenzeichen 6 O 113/19) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. Januar 2023 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bochum abgeändert.
Die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an die Klägerin 50.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12. Juni 2019 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden aus Anlass der streitgegenständlichen Fehlbehandlung sowie solche zukünftigen immateriellen Schäden, die aus einer heute nicht absehbaren Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin folgen und die auf der streitgegenständlichen Behandlung der Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) beruhen, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und/oder andere Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen und wird die Berufung zurückgewiesen.
Von den Gerichtskosten des Rechtsstreits werden der Klägerin 20 % und den Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) 80 % auferlegt.
Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) zu 80 %, die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 4) trägt die Klägerin.
Im Übrigen tragen die Parteien ihre Kosten selbst.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht jeweils die gegnerische Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die am 28.03.1958 geborene Klägerin macht gegenüber den Beklagten Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Einstandspflicht für materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden aufgrund einer vermeintlich fehlerhaften Aufklärung und Behandlung, insbesondere in Bezug auf die Operationen vom 27.01.2016 und 05.07.2016, geltend.
Seit dem Jahr 2003 litt die Klägerin unter einer chronisch-progredienten Ischialgie mit begleitender Lumbalgie. Im November 2015 intensivierten sich die Schmerzen im LWS-Bereich, die in das rechte Bein ausstrahlten. Die Klägerin empfand Taubheitsgefühle und ein Kältegefühl im Fuß. Diese Lumbalgien waren bewegungsunabhängig. Die Klägerin war deshalb in ambulanter Behandlung bei Dr. Q.. Dieser veranlasste eine MRT-Aufnahme vom 15.12.2015 in einer Radiologiepraxis. Der Befundbericht des Facharztes für Radiologie datiert auf den 16.12.2015.
Am 06.01.2016 stellte sich die Klägerin erstmals in der Praxis der Beklagten zu 2) - einer Gemeinschaftspraxis mehrerer Ärzte, an der der Beklagte zu 1) beteiligt ist - vor. Dort wurde sie von dem Beklagten zu 1) behandelt, der zugleich angestellter Arzt beim Rechtsträger des St. Vincenz-Krankenhauses in Y. - der Beklagten zu 3) - ist. Bei der Vorstellung übergab die Klägerin dem Beklagten zu 1) die MRT-Aufnahme vom 15.12.2015 sowie den Befundbericht vom 16.12.2015.
Der Beklagte zu 1) diagnostizierte eine Bandscheibendegeneration bei LW4/5 mit nahezu vollständig aufgebrauchtem Zwischenwirbelraum entsprechend einer Degeneration vom Typ 5 nach Pfirrman. Zudem stellte er ein Wirbelgleiten LW4 Grad I nach Meyerding sowie eine konsekutive Spinalkanalstenose LW4/5 fest. Weiter erkannte er auch im Bewegungssegment LW5/SW1 eine gewisse Degeneration.
Die Klägerin und der Beklagte zu 1) vereinbarten schließlich eine operative Wirbelkörperversteifung für den 27.01.2016 in Form einer posterioren lumbalen intercorporellen Fusion (= PLIF), wobei der Eingriff im St. Vincenz-Krankenhaus der Beklagten zu 3) in Y. durchgeführt werden sollte.
In der Patientenkartei hielt der Beklagte zu 1) zu dem Termin am 06.01.2016 unter anderem fest:
"Vorgeschichte:
(06.01.16)
Die Pat. klagt seit Nov. 15 über exazerbierte Schmerzen im LWS-Bereich mit Ausstrahlung in das re. Bein mit Taubheitsgefühl und Kältegefühl im Fuß.
L bewegungsunabhänigg, L≫I VB: Infiltationen mit Diclo Beruf: Radiologe J.
(...) Behandlungsdaten:
(06.01.16)
PLIF L4/5 (konservative Therapie wird explizit nicht gewünscht) am 27.01.2016 stat. in Y."
In den Unterlagen der Beklagten zu 2) ist dokumentiert, dass die Klägerin am 11.01.2016 telefonisch eine Vorziehung der Operation wünschte, was terminlich nicht möglich gewesen sei.
Am 22.01.2016 fand eine Vorbesprechung der Operation und ein Aufklärungsgespräch zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 1) statt. Die Klägerin unterzeichnete den proCompliance-Aufklärungsbogen "Stabilisierende Operationen bei Verschleiß/Fehls...