Entscheidungsstichwort (Thema)
unerlaubter Umgang mit Betäubungsmitteln zur Eigenbehandlung. rechtfertigender Notstand. Rechtslage nach Inkrafttreten des sog. Cannabis-Gesetzes zum 10.03.2017
Leitsatz (amtlich)
1. Beim unerlaubten Umgang mit Betäubungsmitteln zur Abwendung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen kann eine Rechtfertigung nach § 34 StGB nach dem Inkrafttreten des sog. Cannabis-Gesetzes (Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 06.03.2017, BGBl. I S. 403) zum 10.03.2017 grundsätzlich in Betracht kommen.
2. Neben einer gegenwärtigen Gefahr für das Erhaltungsgut der Gesundheit ist notwendige Voraussetzung für eine Rechtfertigung nach § 34 StGB, dass die Notstandshandlung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls zum Schutz des Erhaltungsgutes geeignet und sich bei mehreren zur Gefahrenabwehr geeigneten Handlungsmöglichkeiten die gewählte als das in Bezug auf das Eingriffsgut relativ mildeste Mittel erweist.
3. Mit Inkrafttreten des sog. Cannabis-Gesetzes schuf der Gesetzgeber in §§ 13 BtMG, 31 Abs. 6 SGB V eine abschließende Bewertung für den zulässigen Umgang mit Cannabisprodukten; das Erfordernis zur Durchführung des Genehmigungsverfahrens nach § 3 Abs. 2 BtMG ist überholt. Ein Betroffener, der sich auf § 34 StGB berufen will, ist daher gehalten, diesen Weg der legalen Versorgung mit Cannabis vorrangig zu beschreiten.
4. Ob ein rechtfertigender Notstand dann vorliegt, wenn der Betroffene den vom Gesetzgeber geschaffenen Weg zwar gesucht, dieser Rechtsweg aber (noch) nicht abschließend beschieden ist, bedarf einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls, was insbesondere für die Frage einer "angemessenen Zeit" gilt, für die es keine starren Grenzen gibt.
5. In Anlehnung an den allgemeinen Rechtsgewährungsgedanken aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen der langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten und Verfahrensverzögerungen durch Dritte.
6. Zur Beurteilung des Vorliegens einer Rechtfertigung nach § 34 BtMG bedarf es daher jedenfalls Ausführungen zu den wesentlichen Gründen der (bisher ergangenen) ablehnenden Entscheidungen und Feststellungen zu den einer abschließenden Entscheidung entgegenstehenden Umständen, der Inanspruchnahme von Eilrechtschutzmöglichkeiten, dem konkreten Ausmaß der ohne Cannabiskonsum drohenden Gefährdung und der durch den Konsum hervorgerufenen Verbesserung; einer inzidenten Rechtmäßigkeitsüberprfung bedarf es indes nicht.
Normenkette
BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 1 Abs. 1, §§ 13, 3 Abs. 2; StGB §§ 34-35; SGB V § 31 Abs. 6
Verfahrensgang
LG Dortmund (Aktenzeichen 47 Ns 1/22) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Dortmund zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Dortmund wirft dem Angeklagten mit der Anklageschrift vom 25.03.2021 vor, am 00.00.2020 in J. durch dieselbe Handlung Betäubungsmittel in nicht geringer Menge besessen zu haben, ohne sie auf Grund einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 BtMG erlangt zu haben, und Betäubungsmittel unerlaubt angebaut zu haben, strafbar als Verbrechen und Vergehen nach den §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 29 Abs. 1 Nr. 1, 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 BtMG.
Das Amtsgericht - Schöffengericht - Lünen hat die Anklage mit Beschluss vom 16.06.2021 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und den Angeklagten mit Urteil vom 13.10.2021 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt. Ferner hat es die Einziehung der sichergestellten Asservate (Marihuana 230,87 g, eine elektronische Feinwaage, zwei Zerkleinerer, ein Glas, eine Lampe mit Leuchtmittel (600 Watt), ein Filter und ein Lüfter) angeordnet. Auf die hiergegen sowohl durch die Staatsanwaltschaft Dortmund am 14.10.2021 als auch durch den Angeklagten am 20.10.2021 form- und fristgerecht eingelegte Berufung hat das Landgericht Dortmund - unter Verwerfung der Berufung der Staatsanwaltschaft - das Urteil des Amtsgerichts - Schöffengerichts - Dortmund vom 13.10.2021 aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der heute 44 Jahre alte Angeklagte seit deutlich mehr als 10 Jahren an einer chronischen Schmerzstörung, die insbesondere die Halswirbelsäule, die Brustwirbelsäule und die Lendenwirbelsäule betrifft. Darüber hinaus bestehen Atemwegsprobleme, Schlafstörungen, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Depressionen sowie weitere Probleme. Aufgrund dieser Erkrankungen, insbesondere der Schmerzstörung, ist der ganze Lebensweg des Angeklagten beeinträchtigt; seine Lebensqualität ist erheblich reduziert. Verschiedene...