Entscheidungsstichwort (Thema)
"Höhere Gewalt" bei Verletzung des Bahnkunden durch fliegende Leiche
Normenkette
HPflG § 1 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 11.03.2003; Aktenzeichen 6 O 536/02) |
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das am 11.3.2003 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des LG Bielefeld wird zurückgewiesen.
Die Kosten des zweiten Rechtszuges werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Während die Klägerin am 15.2.2002 gegen 16.00 Uhr auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofes G. auf ihren Zug wartete und ein ICE der Beklagten mit planmäßiger Geschwindigkeit von ca. 200 km/h den Bahnhofsbereich durchfuhr, warf sich der 24 Jahre alte vermögenslose St.K. in Selbsttötungsabsicht vor diesen ICE. Sein Körper wurde von dem ICE auf den Bahnsteig geschleudert und traf die Klägerin, die sich hierdurch erhebliche Beinverletzungen zuzog.
Das LG hat die auf materiellen Schadensersatz gerichtete Klage abgewiesen, weil der Unfall der Klägerin auf höherer Gewalt beruhe und eine Haftung der Beklagten daher gem. § 1 Abs. 2 S. 1 HPflG ausgeschlossen sei.
Mit näheren Ausführungen zur Rechtslage verfolgt die Klägerin ihr Begehren im Berufungsverfahren weiter.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Die Berufung hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das LG die Klage abgewiesen. Denn der - wie zwischen den Parteien außer Streit steht - einzig in Betracht zu ziehende Schadensersatzanspruch aus § 1 Abs. 1 HPflG scheitert daran, dass der Unfall der Klägerin i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 HPflG durch höhere Gewalt verursacht worden ist.
Höhere Gewalt i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 HPflG ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung außergewöhnlich und unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist (BGH v. 15.3.1988 - VI ZR 115/87, MDR 1988, 851 = VersR 1988, 910 = NZV 1988, 100 = DAR 1988, 238; OLG Hamm v. 7.6.1988 - 9 U 182/87, VersR 1990, 913).
Der Senat folgt der Auffassung der Beklagten, dass es sich bei Unfällen, die wie der Unfall der Klägerin durch Selbsttötungsaktionen ausgelöst werden, um Ereignisse handelt, die mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln nicht verhütet werden können. Zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass der Unfall vom 15.2.2002 verhindert worden wäre, wenn der ICE z.B. im Bahnhofsbereich deutlich langsamer gefahren wäre oder auf ein vom Bahnsteig weiter entferntes Gleis umgeleitet worden wäre. Zu berücksichtigen ist aber, dass zur Selbsttötung entschlossene Personen, die die Gefahren des Bahnbetriebs in ihre Überlegungen einbeziehen, praktisch nur durch ein lückenloses Schutzsystem an der Realisierung ihres Vorhabens gehindert werden können und dass folglich auch nachteilige Auswirkungen auf dritte Personen nur durch ein solches Schutzsystem unterbunden werden können. Der Aufwand für solche umfassende Schutzvorkehrungen wäre aber unvertretbar hoch (Filthaut, Haftpflichtgesetz, 5. Aufl., 1999, § 1 Rz. 189, m.w.N.).
In der Selbsttötung des 24-jährigen Herrn K., die den Unfall der Klägerin ausgelöst hat, liegt auch ein von außen herbeigeführtes außergewöhnliches und unvorhersehbares Ereignis. Obwohl es in den letzten Jahren zu jeweils etwas mehr als 900 Suizidfällen im Bereich des Streckennetzes der Deutschen Bahn gekommen ist, muss der Vorfall vom 15.2.2002 als außergewöhnlich betrachtet werden. Für das Abgrenzungskriterium der Außergewöhnlichkeit darf nicht allein entscheidend auf die numerische Häufigkeit abgestellt werden (BGH v. 15.3.1988 - VI ZR 115/87, MDR 1988, 851 = VersR 1988, 910 = NZV 1988, 100 = DAR 1988, 238; Filthaut, Haftpflichtgesetz, 5. Aufl., 1999, § 1 Rz. 179 [180]). Trotz der numerischen Häufigkeit behalten die nach Zeit und Ort nicht genau vorhersehbaren Fälle bewusster Selbsttötung den Charakter von Ereignissen, die als Schicksalsschlag empfunden werden und auf die sich ein Bahnbetriebsunternehmen ebenso wenig einrichten kann wie auf ein elementares Naturereignis.
Darüber hinaus geht es bei dem Vorfall vom 15.2.2002 um ein Ereignis, das von außen auf den Bahnbetrieb eingewirkt hat. Selbstmordversuche sind typische Einwirkungen von außen, bei denen der Bahnbetrieb nur als Mittel zum Zweck eingeschaltet wird (OLG Köln r + s 1995, 414 [415]; v. 23.11.1987 - 8 U 37/86, NZV 1989, 73; OLG Frankfurt VersR 1979, 451 [452]; OLG Karlsruhe VersR 1959, 569 [570]). Veranlassung zu einer anderen Sicht besteht nicht deswegen, weil der Selbstmörder zunächst wie andere Bahnkunden auf dem Bahnsteig gestanden hat und die Strecke des ICE unmittelbar an dem Bahnsteig entlanggeführt hat. Denn die Frage, ob es um eine Einwirkung von außen geht, ist nicht rein räumlich zu verstehen, sondern stets vor dem Hinterg...