Leitsatz (amtlich)
1. Die sog. "halbe Vorfahrt" verpflichtet den Vorfahrtberechtigten zu angepasster Fahrweise, die ihm die Beachtung der eigenen Wartepflicht in Bezug auf vorfahrtsberechtigten Verkehr ermöglicht. Hierbei muss er nach dem Vertrauensgrundsatz nur mit einer angepassten Geschwindigkeit des ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigten rechnen.
2. Ein Vorfahrtsberechtigter kann sich nach dem Vertrauensgrundsatz darauf verlassen, dass ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde, wenn er selbst bei nur "halber Vorfahrt" mit angepasster Geschwindigkeit fährt.
Normenkette
StVG §§ 7, 18; StVO § 8; VVG § 115
Verfahrensgang
LG Münster (Aktenzeichen 16 O 86/18) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 27.03.2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster (16 O 86/18) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des jeweiligen Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten um die Haftungsverteilung dem Grunde nach wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 00.00.2015 gegen 11.30 Uhr in N im außerhalb geschlossener Ortschaften gelegenen ungeregelten Kreuzungsbereich Mstraße/Istraße ereignete.
Bei den kreuzenden Straßen handelt es sich um mit Baum- und Buschbestand gesäumte Feldwege. Wegen der Unfallörtlichkeit wird auf die Lichtbilder Bl. 49 ff. d. A. sowie das Luftbild Anlage A 1 zum mündlichen Gutachten des Sachverständigen T vom 09.06.2020 Bezug genommen.
Der Kläger befuhr mit seinem SUV des Typs U ... 0 die Mstraße in südlicher Richtung. Der Beklagte zu 1) kam mit dem von der Beklagten zu 2) gehaltenen, bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Q ...; aus Sicht des Klägers von links aus der Straße Istraße und kollidierte mit dem Klägerfahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls wurde das Klägerfahrzeug umgeworfen, der Kläger erlitt u.a. Becken- und Rippenbrüche sowie einen Milzriss.
Das Beklagtenfahrzeug wurde durch den Aufprall um 90 Grad nach links herumgerissen.
Für den Beklagten zu 1) galt an der Unfallstelle eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h, für den Kläger die allgemeine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h.
Der Kläger wies nach dem Unfall eine Alkoholisierung von 0,59 Promille auf.
Die Beklagte zu 3) hat mit Schreiben vom 06.07.2018 mit der Wirkung eines feststellenden Urteils gegenüber dem Kläger eine Haftung für die Unfallschäden zu 75% anerkannt, soweit kein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte stattgefunden hat. Daran lassen sich die Beklagten im vorliegenden Prozess festhalten.
Streitig ist lediglich, ob dem Kläger eine Mithaftung i.H.v. 25 % anzulasten ist.
Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich aller materiellen und immateriellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall in voller Höhe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes einschließlich der erstinstanzlich gestellten Anträge der Parteien wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 67 ff. d. A.) Bezug genommen.
Das Landgericht hat den Kläger sowie den Beklagten zu 1) persönlich angehört und, nachdem der Einzelrichter die Unfallörtlichkeit im Rahmen einer privaten Fahrradtour in Augenschein genommen und auch der Beklagtenvertreter die Unfallstelle besichtigt hatte, der Klage vollumfänglich stattgegeben.
Zur Begründung hat es ausgeführt, das gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse sei wegen der Möglichkeit zukünftiger Schäden und des ernsthaften Bestreitens einer Haftung, die über die bereits anerkannten 75% hinausgehe, gegeben.
Die sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 115 Abs. 1 VVG ergebende Haftung der Beklagten sei nicht wegen eines Mitverursachungsbeitrages des Klägers um 25% zu kürzen.
Ein schuldhafter Verursachungsbeitrag des Klägers lasse sich nicht erkennen.
Er habe nicht die Pflicht gehabt, seine Geschwindigkeit erheblich zu verringern, als er in den Kreuzungsbereich hineingefahren sei. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des von ihm zu beachtenden Vorrangs von rechts kommender Fahrzeuge, sog. "halbe Vorfahrt".
Der Vorfahrtsberechtigte müsse sich auch in eine nach rechts unübersichtliche Kreuzung nur dann langsam hineintasten, wenn er die kreuzende Straße nach rechts nicht weit genug einsehen könne.
Aufgrund der erlangten Kenntnis des Gerichts von der Unfallstelle stehe jedoch fest, dass der Kläger ausreichende Sicht auf den von rechts kommenden Verkehr gehabt habe. Sich der Kreuzung nähernde Fahrzeuge seien bereits aus einer Entfernung von 50 Metern vor der Kreuzung durch die Sträucher unproblematisch zu erkennen. Ab einer Entfernung von 10 bis 15 Metern zum Kre...