Entscheidungsstichwort (Thema)
Grober Behandlungsfehler bei der Untersuchung einer Schwangeren
Leitsatz (amtlich)
Weist ein Gynäkologe bei einem pathologischen CTG nicht auf die sofortige Einweisung der Kindesmutter in ein Krankenhaus, so kann darin ein grober Behandlungsfehler vorliegen. Bei einer schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigung eines Kindes, kann ein Schmerzensgeld von 500.000,- EUR angemessen sein.
Normenkette
BGB §§ 253, 280, 823
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 4 O 303/07) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 27. Juli 2020 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte zu 4) wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 500.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19. März 2011 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 4) verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen materiellen Schaden zu ersetzen, der durch die fehlerhafte ambulante Schwangerschaftsvoruntersuchung am 10.08.2005 durch den Beklagten zu 4) verursacht worden ist oder noch verursacht wird, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung des Klägers und die Berufung des Beklagten zu 4) werden zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers werden dem Kläger zu 3/4 und dem Beklagten zu 4) zu 1/4 auferlegt.
Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) bis 3) trägt der Kläger.
Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 4) trägt dieser selbst.
Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Das angefochtene und dieses Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die gegnerische Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der am 10.08.2005 geborene Kläger macht Ansprüche auf Schmerzensgeld und im Wege des Feststellungsbegehrens Schadensersatzansprüche wegen einer behaupteten ärztlichen Fehlbehandlung im Rahmen einer ambulanten Schwangerschaftsvoruntersuchung und seiner Geburt geltend.
Die Mutter des Klägers (geb. am 00.00.1972) hatte bereits in der Vergangenheit eine Schwangerschaft wegen eines pathologischen Cardiotokogramms (CTG) mittels Sectio entbunden. Sie wurde nun in ihrer dritten Schwangerschaft von dem Beklagten zu 4) ärztlich betreut. Dieser errechnete den 08.08.2005 als voraussichtlichen Geburtstermin und führte im Verlauf der Schwangerschaft insgesamt zehn Untersuchungen durch, unter anderem auch am 08.08.2005 und am 09.08.2005. Am Vormittag des 10.08.2005 - dem Tag der Geburt des Klägers - stellte sich dessen Mutter erneut bei dem Beklagten zu 4) vor. Nach den Befunden des Beklagten 4) waren der Schwangerschaftsverlauf und die Kindesentwicklung bis zu jenem Tag unauffällig. Er nahm gegen 11:20 Uhr eine vaginale Untersuchung und eine Ultraschalluntersuchung vor, ferner wurde ein 12-minütiges CTG angefertigt. Im Einweisungsschein vom gleichen Tag hielt der Beklagte zu 4) die Diagnosen "Gravidität über dem Termin" und "Oligohydramnie bei Gravidität" fest. Befunde des CTG waren weder im Mutterpass noch als Zusatz zur Einweisung eingetragen.
Am Abend desselben Tages - wobei die genaue Uhrzeit streitig ist - wurde die Mutter des Klägers im Kreißsaal des Klinikums der Beklagten zu 1) vorstellig, weil sie das Gefühl hatte, die Kindesbewegungen hätten abgenommen. Sie wurde daraufhin um 19:11 Uhr an ein CTG-Gerät angeschlossen. Auf diesem zeigte sich sofort ein eingeschränkt oszillatorischer Verlauf der fetalen Herzfrequenz, keine Akzelerationen, einmalig Dip Typ II im Stehen, ausreichende Nulldurchgänge; Weckversuche und Seitenwechsel der Mutter hatten keine Veränderung zur Folge. Ferner konnten alle 10 Minuten Wehen aufgezeichnet werden, welche die Mutter des Klägers indes nicht spürte. Daraufhin wurde um 19:40 Uhr die diensthabende Beklagte zu 2) verständigt. Es wurde eine Braunüle angelegt und Blut für das Labor entnommen. Eine Fetometrie ergab unter anderem folgenden Befund: "Wenig Kindsbewegungen, Herzaktion positiv, Plazenta wenig verkalkt, Oligohydramnion". Die Beklagte zu 2) diagnostizierte: "Terminüberschreitung um zwei Tage, Oligohydramnion, suspektes CTG, Zustand nach Sectio wegen pathologischem CTG, Eisenmangelanämie". Eine Dopplersonographie zeigte einen Resistance-Index von 0,67 bzw. 0,75, die Arteria cerebri media wies einen Resistance-Index von 0,48 bzw. 0,59 und damit einen Wert unterhalb der 5er-Perzentile auf. Bei der vaginalen Untersuchung durch die Beklagte zu 2) zeigte sich folgender Befund: "Portio medio-sacral, erhalten, weich. Muttermund außen für zwei Finger durchgängig, innen fingerdurchgängig, Pfeilnaht quer".
Um 20:25 Uhr wurde die Mutter des Klägers erneut an das CTG angeschlossen und ihr Blutdruck gemes...