Leitsatz (amtlich)
Zu der Frage, wie ein niedergelassener Gynäkologe die Auswertung eines routinemäßig geschriebenen CTG einer Schwangeren organisieren muss und wie auf ein silentes CTG mit einem im Doppler-Ultraschall erkennbaren Reverse Flow in der Nabelschnurarterie zu reagieren ist sowie zu den Folgen einer grob fehlerhaften gynäkologischen Behandlung in einer solchen Situation.
Normenkette
BGB §§ 253, 280, 823
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 12.03.2015; Aktenzeichen 111 O 165/11) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 12.03.2015 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster abgeändert und unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 400.000,- EUR zuzüglich fünf Prozentpunkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.11.2011 zu zahlen.
Ferner wird festgestellt, dass der Beklagte sämtliche weiteren materiellen und die zukünftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus der streitgegenständlichen Behandlung vom 06.11.2008 zu ersetzen hat, sofern die Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstigen Dritten übergegangen sind.
Weiter wird der Beklagte verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 7.154,28 EUR zuzüglich fünf Prozentpunkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.01.2012 zu zahlen.
Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 1/8 und der Beklagte zu 7/8.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger macht gegen den Beklagten, einen niedergelassenen Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Schadensersatzansprüche wegen einer fehlerhaften gynäkologischen Behandlung seiner Mutter am 06.11.2008 geltend. Er wirft dem Beklagten vor, auf eine bei ihm bestehende Sauerstoffunterversorgung nicht fachgerecht reagiert zu haben, wodurch es bei ihm zu schweren dauerhaften körperlichen und geistigen Schäden gekommen sei.
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen, der jedoch Anlass zu folgenden Korrekturen bzw. Ergänzungen bietet:
Die Schwangerschaft der Mutter des Klägers verlief - wie auch das Landgericht festgestellt hat - unauffällig. Insbesondere wurden bei den vorangegangenen Untersuchungen in der Praxis des Beklagten am 18.09. und 17.10.2008 weder im CTG noch im Hinblick auf die Entwicklung des Klägers Auffälligkeiten festgestellt.
Das im Rahmen der streitgegenständlichen Behandlung am 06.11.2008 geschriebene CTG erfolgte nach der Geräteanzeige zwischen 12.15 und 12.40 Uhr.
Soweit das Landgericht als unstreitig festgestellt hat, dass der Beklagte seinerzeit die erhobenen Befunde - silentes CTG und Reverse Flow in der Nabelschnurarterie - dahingehend bewertet habe, dass ein schon länger andauernder Sauerstoffmangel vorgelegen habe, ist dies von den Parteien so nicht vorgetragen worden. Vielmehr hat der Beklagte - was von dem Kläger bestritten wird - behauptet, dass der entsprechende Befund (generell) darauf hindeute, dass ein schon länger andauernder Sauerstoffmangel bestanden habe.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass Behandlungsfehler des Beklagten nach dem Gutachten des Sachverständigen W nicht feststünden.
Insbesondere sei kein Fehler im Zusammenhang mit der CTG-Ableitung feststellbar.
Dass das Personal des Beklagten aus den CTG-Aufzeichnungen und dem klägerseits behaupteten Weckversuch den Schluss gezogen habe, dass eine Gefährdung des Klägers vorgelegen habe, werde von dem Kläger weder substantiiert vorgetragen noch unter Beweis gestellt.
Auch unter dem Gesichtspunkt, dass der pathologische Charakter der Ableitungen von dem Personal nicht erkannt worden sei bzw. die Aufzeichnungen dem Beklagten nicht unmittelbar nach der Erstellung vorgelegt worden seien, sei - so das Landgericht - ein Behandlungsfehler nicht feststellbar. Ein niedergelassener Gynäkologe müsse seine Praxis weder so organisieren, dass ihm - wie im vorliegenden Fall angefertigt - überobligatorische CTG-Ableitungen unverzüglich nach ihrer Erstellung selbst vorgelegt würden, noch obliege es ihm, fachkundiges Personal für die Vornahme von CTG-Ableitungen vorzuhalten, das selbst zu einer Auswertung der Aufzeichnungen in der Lage sei. Insofern bestünden erhebliche Unterschiede zu der geburtshilflichen Situation in der Klinik, wo CTG-Ableitungen regelmäßig von Hebammen vorgenommen würden und die Aussagekraft dieser Untersuchung im Vergleich zum vorgeburtlichen Stadium deutlich größer sei.
Handlungsbedarf habe dementsprechend erst in der Situation bestanden, als der Beklagte selbst das CTG befundet und zu einem reaktionspflichti...